© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  14/14 / 28. März 2014

Genderfeminismus und Grundgesetz
Recht ist nicht Mode
Björn Schumacher

Im Genderfeminismus verbinden sich Maximalforderungen der Frauen- sowie der Lesben- und Schwulenbewegung. Als Markenkern grün-roter Programmatik hat diese Gleichheitsideologie einen scheinbar unaufhaltsamen Siegeszug angetreten. Statt sie vom konservativen und freiheitlichen Standpunkt zu bekämpfen, unterwerfen sich ihr auch die Führungskader bürgerlicher Parteien.

In Grundgesetzdebatten geraten Gleichstellungs-Feministen daher selten unter Rechtfertigungsdruck. Ihre Argumentation rankt sich um die These, Frauen- und Minderheitenrechte ließen sich aus den Grundrechten des Artikels 2 Absatz 1 und Artikel 3 Grundgesetz (GG) herleiten.

Artikel 2 Absatz 1 GG lautet: „Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.“ Im System der Grundrechte bildet die Norm das allgemeine Freiheitsrecht. Ihr begrifflicher Kern, die freie Entfaltung der Persönlichkeit, bedeutet in der Alltagssprache: „Jeder kann tun und lassen, was er will.“

Diese Norm kommt subsidiär zum Zuge, wenn der Schutzbereich spezieller Freiheitsrechte wie Religions-, Meinungs- oder Versammlungsfreiheit nicht tangiert wird. Freiheitsrechte sind, historisch betrachtet, Abwehrrechte des Individuums gegen staatliche Eingriffe. Ansprüche auf Teilhabe an Leistungen oder Privilegierungen gewähren sie regelmäßig nicht. Wer sie dennoch als (feministische) Teilhaberechte deuten will, gerät an die Grenzen freiheitlicher Demokratie.

Im übrigen darf seine Persönlichkeit nicht frei entfalten, wer die Rechte anderer verletzt. Solche Güterabwägungen sind Gleichstellungs-Feministen jedoch fremd. Ihr verkürztes, auf die erwerbstätige Frau fixiertes Geschlechterbild blendet die Interessen von Männern, Kindern und daheim erziehenden Müttern aus. Kleinkinder sollen trotz ihres Verlangens nach mütterlicher Nähe eine tägliche Fremdbetreuung ertragen. Ihr auf Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 GG beruhendes Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit, das die seelische Gesundheit umfaßt (BVerfGE 56, 54 vom 14. Januar 1981), wird dabei zur Makulatur.

Die Gender-Argumentation verkehrt sich hier ins Gegenteil. Feministische Gesetze finden keine Stütze in Artikel 2 Absatz 1 GG; meist verstoßen sie gegen diese Norm. Markantes Beispiel ist das nach EU-Recht erarbeitete Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG), das die Privatautonomie im Zivil- und Arbeitsrecht beschränkt. Gemäß der Paragraphen 1 ff. AGG dürfen Menschen mit bestimmten „personenbezogenen Merkmalen“ – Genderisten geht es um Frauen und Homosexuelle – bei der Arbeits- oder Wohnungssuche nicht benachteiligt werden. Das mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und Grünen beschlossene AGG wurde von der Rechtsprechung akzeptiert, teilweise sogar weit ausgelegt. Letztlich ist es eine Spielwiese sozialistischer Umverteilung, weil und soweit Paragraph 15 AGG Entschädigungs- und Schadensersatzansprüche gegen „Diskriminierer“ gewährt – noch dazu unter Umkehr der üblichen Beweislastverteilung, Paragraph 22 AGG.

Diese Rechtsentwicklung darf nicht hingenommen werden. Arbeitgeber und Hausbesitzer haben ein quasi natürliches Recht auf „Diskriminierung“, dürfen also ihre Vertragspartner nach Geschlecht oder „sexueller Identität“ auswählen. Aus Artikel 2 Absatz 1 GG folgt das ebenso wie aus dem vernunftrechtlichen, die Verfassung prägenden Geist der Freiheit. Recht ist nicht Moral, erst recht nicht die Unterdrückermoral kulturrelativistischer Gleichheitsjakobiner.

„Jedem das Seine“ lautet das seit der Antike herrschende Verteilungsprinzip. Differenzierende Rechtsregeln sind wegen der Verschiedenheit von Menschen und Kulturphänomenen nicht nur erlaubt, sondern sogar geboten.

Auch die Gleichheitssätze des Artikel 3 GG lassen sich nicht vor den Gender-Karren spannen. Ihr rechtlicher Gehalt liegt nicht in schematischer Gleichbehandlung, sondern in der Verteilungsgerechtigkeit. „Jedem das Seine“ (suum cuique) lautet das seit der Antike herrschende Verteilungsprinzip. Differenzierende Rechtsregeln sind wegen der Verschiedenheit von Menschen und Kulturphänomenen nicht nur erlaubt, sondern sogar geboten. Nur das in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht Gleiche muß gleich behandelt werden, das Ungleiche dagegen ungleich. Sinn und Zweck der Gleichheitssätze ist ein „Willkürverbot“ (BVerfGE 23, 98 ff. vom 14. Februar 1968).

Nichts anderes folgt aus dem Wortlaut des Artikel 3 GG. Dessen allgemeine Fassung „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich“ (Absatz 1) besagt, daß Menschen im Kern die gleichen staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten haben. Sie besagt dagegen nicht, daß alle Menschen biologisch gleich, gleichbefähigt oder ihre unterschiedlichen Verhaltensweisen in ethisch-kultureller Hinsicht gleichwertig sind. Als überflüssig erweist sich daher Artikel 3 Absatz 2 Satz 1 GG: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt.“ Mit der gleichen fragwürdigen Tautologie hätte der Verfassungsgeber deklarieren können: „Alte und Junge sind gleichberechtigt“ oder „Gesunde und Kranke sind gleichberechtigt.“

Feministische Lobbyarbeit führte 1994 sogar zu einer Erweiterung des Artikel 3 Absatz 2 GG um folgenden Satz 2: „Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.“ Diese Vorschrift ist erstens irreführend; denn unter dem Etikett längst bestehender Gleichberechtigung geht es Genderisten hier um die „Gleichstellung“ von Mann und Frau. Sie ist zweitens systemwidrig; denn ob die Geschlechter gleichgestellt sind oder nicht, beispielsweise ebenso viele Frauen wie Männer erwerbstätig sind, hat den Verfassungsgeber nicht zu interessieren. Artikel 3 GG liefert keinen Anspruch auf wirtschaftliche Teilhabe, erst recht nicht im Zivilrecht mit seiner Privatautonomie. Artikel 3 Absatz 2 Satz 2 GG ist also „verfassungswidriges Verfassungsrecht“.

Auf den Prüfstand gehört aber auch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Mit Urteil vom 6. Juni 2013 wurde ein Gesetz, das eingetragene Lebenspartnerschaften vom Steuersplitting ausschließt, „über den Transmissionsriemen des Gleichheitssatzes“ (Klaus Ferdinand Gärditz) für verfassungswidrig erklärt. An diesem Riemen kann freilich nur ziehen, wer die „Homo-Ehe“ vom Standpunkt des Egalitaristen oder Kulturrelativisten betrachtet. Der Subtext der Karlsruher Entscheidung mündet in die kühne These, schwule und lesbische Verbindungen hätten den gleichen rechtsethischen Wert wie die regelmäßig der Fortpflanzung dienende Ehe.

Das Gegenteil folgt keineswegs nur aus christlichem Naturrecht, sondern aus dem Grundgesetz selbst: „Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung“, Artikel 6 Absatz 1 GG. Konsequenz ist das sogenannte Abstandsgebot, also die Pflicht des Staats, Eheleute weniger zu belasten und stärker zu fördern als andere Gemeinschaften. Ein Gesetzgeber, der es durch eine steuerliche Bevorzugung der Ehe verwirklicht, kann unmöglich den allgemeinen Gleichheitssatz verletzen. Die speziellen Gleichheitssätze des Artikel 3 Absatz 2 und 3 GG spielen hier sowieso keine Rolle. Sie wollen Benachteiligungen aufgrund von Geschlecht, Abstammung, Rasse, Heimat und Herkunft sowie religiöser oder politischer Anschauungen verhindern, nicht aber aufgrund „sexueller Identität“. Das Bundesverfassungsgericht gilt vielfach immer noch als „Hüter der Verfassung“. Es sollte daher aufhören, sich am feministischen Kulturkampf zu beteiligen und Eckpfeiler der Verfassung contra legem fortzubilden.

Genderisten begnügen sich nicht damit, staatliche Leistungen und Gleichstellung zu fordern, indem sie Freiheitsrechte in Teilhabe­rechte verbiegen. Sie verlangen jetzt obendrein einen Stopp familien- und bevölkerungspolitischer Fördermaßnahmen.

Eine neue verfassungspolitische Dimension sei abschließend skizziert. Genderisten begnügen sich nicht länger damit, staatliche Leistungen und Gleichstellung zu fordern, indem sie Freiheitsrechte mittels Umdeutung in feministische Teilhaberechte verbiegen. Sie verlangen jetzt obendrein – unter Berufung auf die Würde des Menschen – einen Stopp familien- und bevölkerungspolitischer Fördermaßnahmen. Beleg ist ein ohne erkennbaren Widerspruch gebliebenes FAS-Interview mit Ute Sacksofsky vom Mai 2013. Die Juraprofessorin an der Universität Frankfurt am Main und Richterin des Staatsgerichtshofs der Freien Hansestadt Bremen entwarf hier ein Kompendium feministischer und zugleich antideutscher Denkungsart:

„Heute möchte der Staat Beitragszahler für die Rentenversicherung. Das halte ich für bedenklich. Menschen sind Zwecke um ihrer selbst willen und nicht Instrumente, um das Rentensystem zu stabilisieren. (…) Bevölkerungspolitiker wollen ja ohnehin nicht nur die Geburtenrate steigern, sondern hätten es gerne, daß die Richtigen sich fortpflanzen. Da wird es dann völlig schräg. (…) Was heißt schon ‘deutsche Kultur’? Das deutsche Bier, der deutsche Wald? Gehört die Currywurst dazu, deren Gewürzmischung aus Indien stammt?“

Über Sacksofskys grobkörnigen Kulturbegriff sollte man schweigen; über ihre Sophistik dagegen nicht. Natürlich kann nicht „das geplante Kind“, sondern nur der bereits gezeugte Mensch aufgrund seiner Menschenwürde, Artikel 1 Absatz 1 GG, vor Instrumentalisierung geschützt sein. Ob sozialpolitische oder andere Motive zu seiner Entstehung geführt haben, spielt keine Rolle. Andernfalls wäre jede bewußte Zeugung eines Menschen ein Verstoß gegen dessen Würde. Eltern, die „einfach nur ein Baby haben“ wollen, müßten sich vorwerfen lassen, dieses zum Werkzeug ihres Kinderwunsches zu machen. Schlimmer noch, Ende 2013 verstieg sich die Sozialwissenschaftlerin Susanne Schultz („Genethisches Netzwerk e. V.“) zu der Behauptung, der Fortpflanzungswunsch deutscher Paare berge Elemente einer „rassistischen Konstellation“.

Davon abgesehen gehört der souveräne demokratische Nationalstaat zur Verfassungsidentität im Sinne des Artikel 20 GG („Lissabon-Urteil“ des Bundesverfassungsgerichts, 30. Juni 2009) und darf nicht einmal durch verfassungsändernde Gesetze nach Artikel 79 Absatz 3 GG beseitigt werden. Der Fortbestand des die Demokratie tragenden Demos, also des deutschen Volkes, ist daher ein legitimes politisches Ziel.

Der spätere Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde beschrieb 1976 die Rahmenbedingungen freiheitlicher Demokratie: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. (… )Als freiheitlicher Staat kann er einerseits nur bestehen, wenn sich die Freiheit … von innen her, aus der moralischen Substanz des einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert. Anderseits kann er diese inneren Regulierungskräfte nicht von sich aus, das heißt mit den Mitteln des Rechtszwanges und autoritativen Gebots zu garantieren suchen, ohne seine Freiheitlichkeit aufzugeben …“

Genauso ist es: Der freiheitliche Rechtsstaat darf niemanden zum Kinderkriegen zwingen. Ebenso selbstverständlich darf er aber finanzielle oder sonstige Anreize dafür setzen.

 

Dr. Björn Schumacher, Jahrgang 1952, ist Jurist. Bekannt wurde er durch die Studie „Die Zerstörung deutscher Städte im Luftkrieg“ (Graz 2008). Auf dem Forum schrieb er zuletzt über das Selbstbestimmungsrecht der Bundesrepublik Deutschland („Eigentlich sind wir souverän“, JF 38/13).

Foto: Der Zeitgeist wirft seine Schatten auch im Rechtsleben: Das Bundesverfassungsgericht beteiligt sich am feministischen Kulturkampf und schreibt Grundrechte im Widerspruch zum Recht fort

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