© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  13/14 / 21. März 2014

Eine geheime Elite wollte Krieg
Zwei britische Historiker richten den Fokus auf einen einflußreichen Zirkel in Großbritannien, der lange vor Beginn des Ersten Weltkriegs die militärische Niederwerfung Deutschlands anstrebte
Hans Fenske

Die weithin für richtig gehaltene Ansicht, das Deutsche Reich trage den überwiegenden Teil der Verantwortung für den Kriegsausbruch 1914, wird zunehmend in Frage gestellt. In seinem Buch „Die Schlafwandler“ sagte Christopher Clark vor kurzem zwar abschließend, daß keine europäische Großmacht damals den Krieg unbedingt wollte, seine Darstellung zeigt aber doch, daß vor allem Rußland die Signale entschlossen auf Krieg stellte und daß der deutsche Anteil an der Auslösung der Katastrophe sehr gering war.

Aufstieg Deutschlands sahen sie mit großem Unbehagen

Noch klarer machen die beiden englischen Autoren Gerry Docherty und Jim MacGregor gegen einen großen Teil der bisherigen Geschichtsschreibung zum Ersten Weltkrieg Front. Gleich zu Beginn ihrer auf einer breiten Quellen- und Literaturbasis beruhenden Studie sagen sie, daß zwar die entsetzliche Verschwendung von Menschenleben zwischen 1914 und 1918 sehr richtig dargestellt werde, daß aber die Wahrheit darüber, wie all das begann und wie es unnötigerweise und bewußt über 1915 hinaus verlängert wurde, hundert Jahre verdeckt blieb und die Tatsache verheimlicht wurde, „daß Großbritannien, nicht Deutschland, für den Krieg verantwortlich war“.

Zum Erweis dessen holen sie weit aus und führen den Leser vom Beginn der britischen Expansion in Südafrika im späten 19. Jahrhundert bis zum August 1914. Der Julikrise jenes Jahres ist ein knappes Drittel ihrer Studie gewidmet. Sie verweisen darauf, daß 1891 auf Betreiben des imperialistischen Vordenkers Cecil Rhodes eine geheime Vereinigung einflußreicher Persönlichkeiten in Großbritannien und den Vereinigten Staaten entstand, die einen engen Zusammenschluß der beiden Mächte und damit die angelsächsische Dominanz in der Welt anstrebte. Die Mitglieder dieses Netzwerkes – von den Autoren „die geheime Elite“ genannt – hatten entscheidenden Einfluß auf die britische Außenpolitik, zumal seit dem Amtsantritt von Edward Grey, einem führenden Mitglied des Kreises, als Außenminister Ende 1905.

Auch in Paris und Sankt Petersburg wirkten sie tatkräftig für ihre Zielsetzung. Den raschen wirtschaftlichen Aufstieg des Deutschen Reiches sahen sie mit großem Unbehagen. Sie wollten Deutschland möglichst schwächen, auch durch Anwendung von Gewalt. Dazu brauchten sie einen kontinentalen Partner und fanden ihn 1904 in Frank­ reich. 1907 kam Rußland hinzu. Schon in der ersten Marokkokrise 1905/1906 dachten die führenden Persönlichkeiten des Netzwerks an Krieg gegen das Deutsche Reich, während Deutschland zur Verständigung bereit war und dafür die Unterstützung des amerikanischen Präsidenten fand.

Es kam zu einer engen Zusammenarbeit zwischen dem britischen und dem französischen Generalstab, in die auch Belgien einbezogen wurde. Sie dauerte auch nach der Überwindung der Krise an. Während der zweiten Marokkokrise 1911 wollte die „geheime Elite“ wiederum den Krieg. Der Leiter der Operationsabteilung im britischen Kriegsministerium reiste nach Paris und erarbeitete dort mit einem französischen General einen Feldzugsplan, dem zufolge ein britisches Expeditionskorps in Stärke von 150.000 Mann in Frankreich eingesetzt werden sollte. Darüber wurde am 23. August im Comittee of Imperial Defence gesprochen.

Doppelspiel vor dem  Unterhaus im Juli 1914

Als im November Informationen über diese Sitzung durchsickerten, gab es eine erregte Debatte im britischen Kabinett. Sie endete mit dem Beschluß, daß es keine Absprache des Generalstabs mit fremden Generalstäben geben dürfe. Daran hielt sich das Kriegsministerium in der Folge aber nicht, nur agierten die Männer des Netzwerks fortan noch mehr im Verborgenen. Die beiden Autoren liefern viele Belege dafür, daß die „geheime Elite“ auf einen Krieg mit Deutschland hinarbeitete. Die irische Frage bot eine Möglichkeit, die britische Öffentlichkeit für den Krieg zu gewinnen. Mit in Deutschland gekauften und heimlich nach Irland gebrachten Waffen rüstete die „geheime Elite“ dort Katholiken und Protestanten gegeneinander auf. Bei Bedarf konnte man sagen, das sei das Werk der Deutschen gewesen.

In der Julikrise 1914 war Grey von Anfang an zur Teilnahme Großbritanniens am großen Krieg entschlossen, konnte das aber selbstverständlich nicht offen sagen. Er tat so, als suche er Lösungsmöglichkeiten. Dem deutschen Botschafter sagte er wahrheitswidrig, Großbritannien sei keinerlei Verpflichtungen für den Fall eines europäischen Krieges eingegangen, in Sankt Petersburg dagegen ließ er sein völliges Einverständnis mit dem russischen Vorgehen aussprechen und mahnte nicht zur Zurückhaltung. Seinen Kabinettskollegen und den Abgeordneten des Unterhauses verschwieg er seine wahren Absichten.

Am 3. August erklärte er im Unterhaus, er und das Foreign Office hätten alles zur Erhaltung des Friedens getan, und unterstrich die Bedeutung der belgischen Neutralität. Sehr viel ausführlicher äußerte er sich sodann zur irischen Frage. Eine Aussprache über seine Rede ließ er abwürgen, zu einer Abstimmung kam es nicht – er wußte, daß zahlreiche Abgeordnete anders dachten als er. Docherty und MacGregor nennen sein Verhalten in der Krise doppelzüngig und undemokratisch. Reichskanzler Bethmann Hollweg bescheinigen sie, der einzige europäische Spitzenpolitiker gewesen zu sein, der den Krieg zu verhindern versuchte.

Den Einfluß der „geheimen Elite“ auf die Politik Rußlands und Frankreichs veranschlagen die beiden Autoren zu hoch. Die von Sankt Petersburg getriebene Balkanpolitik, die den Krieg auslöste, war ein ganz eigenständiges russisches Konzept, und für die Frontstellung vieler französischer Spitzenpolitiker gegenüber Deutschland bedurfte es ebensowenig einer Ermunterung aus London. Der Wert der sehr aufschlußreichen Studie von Docherty und MacGregor liegt in dem Nachweis, daß der Anteil Großbri­- tanniens am Ausbruch des Ersten Weltkriegs sehr viel größer war, als gemeinhin angenommen wird. Es wäre zu begrüßen, wenn sich ein Verlag fände, der das Werk in deutscher Sprache vorlegte.

 

Prof. Dr. Hans Fenske lehrte Neuere und Neueste Geschichte an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg im Breisgau. Im Herbst 2013 erschien im Münchner Olzog Verlag sein Buch „Der Anfang vom Ende des alten Europa. Die alliierte Verweigerung von Friedensgesprächen 1914–1919“.

Gerry Docherty, Jim MacGregor: Hidden History. The Secret Origins of the First World War. Mainstream Publishing Company, Edinburgh 2013, gebunden, 463 Seiten, 23,30 Euro

Foto: Der britische Außenminister Sir Edward Grey spricht 1911 vor dem Unterhaus: Gegen das Deutsche Reich gerichtete Hinterzimmerpolitik

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen