© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  12/14 / 14. März 2014

Nur ein Massenmörder
Der Historiker und Sinologe Frank Dikötter hat ein imposantes Werk über die ebenso irrwitzige wie tödliche Politik Mao Zedongs vorgelegt
Friedrich-Wilhelm Schlomann

Der niederländische Autor Frank Dikötter, Professor an der Universität von Hongkong, erhielt für sein aktuelles Buch den angesehenen Samuel-Johnson-Preis der BBC. War er doch einer der ersten, der Zugang zu den bisher verschlossenen Akten und Statistiken der chinesischen Sicherheitsbehörden etlicher Regionen und der Provinzparteikomitees erhielt.

Eingangs erfährt der Leser von den Rivalitäten zwischen Chruschtschow und Mao, beanspruchte doch jeder die Führung im Weltkommunismus. Als 1957 Moskau erklärt, in 15 Jahren die USA wirtschaftlich überholen zu wollen, reagiert Peking auf die Herausforderung einen Monat später mit dem Versprechen, in derselben Zeit Großbritannien zu überflügeln – der Startschuß zum „Großen Sprung nach vorn“. Im Gegensatz zur Sowjetunion will es auf „zwei Beinen stehen“, Industrie und Landwirtschaft müssen gleichzeitig aufgebaut werden.

Von dieser Aufgabe ist Mao geradezu besessen, jegliche Kritik löst seine Rachsucht aus. Kaum jemand wagt deshalb offenen Widerstand. „Säuberungen“ erfassen alle Ebenen der Parteihierrachie. Ein Menschenleben gilt bei Mao nicht viel. 1958 werden die landwirtschaftlichen Kollektive in China zu riesigen Volkskommunen, die bis zu 20.000 Haushalte umfassen. Mao sieht sie als „die goldene Brücke zum Kommunismus“. Militärisch organisiert, marschieren die Arbeitstrupps auf die Felder; Nahrung gibt es nur in Volksküchen und wird nur nach der jeweiligen Arbeitsleistung ausgegeben – viele Kranke und Alte verhungern praktisch. Arbeitslohn wird abgeschafft.

Das System wird eine Waffe, mit der die Menschen zur Befolgung jedes Parteibefehls gezwungen werden. Funktionäre erweisen sich zu allem bereit, um die überspitzten Forderungen der Parteiführung zu erfüllen, dabei werden ihre Informationen über Produktionsergebnisse aus Propagandagründen der Parteispitze geschönt vorgelegt. Die Führungskader spielten mit diesen Ergebnissen bewußt eine Provinz gegen die andere aus. Im Volk gibt es zwar eine wachsende Opposition gegen diese Politik, die jedoch mit größter Brutalität niedergewalzt wird.

Über 15 Millionen Bauern gehen mit der Hoffnung auf ein besseres Leben in die Städte, manche Dörfer werden menschenleer, es mangelt an Erntearbeitern, Reis verrottet auf den Feldern. Aufgrund der erhöhten Angaben der Provinzen rechnet die Parteiführung als Planziel mit 410 Millionen Tonnen Getreide, tatsächlich beläuft sich die Produktion auf nicht einmal die Hälfte. Der Staat fordert trotzdem seine Quote, die Folge ist eine weitere Getreideknappheit bei den Bauern und in weiterer Konsequenz eine verstärkte Hungersnot.

Im Sommer 1960 macht Peking Moskaus Führungsanspruch streitig. Chruschtschow spricht sich darauf offen gegen das Konzept der Volkskommunen aus und zieht seine etwa 1.500 Berater aus China ab. Obwohl nur wenige in der Landwirtschaft tätig waren, gibt Mao der Sowjetunion die Schuld am wirtschaftlichen Zusammenbruch und der grassierenden Hungersnot. Wie Dikötter anhand etlicher Vorfälle beweist, verkaufen Eltern gegen Lebensmittel sogar ihre Kinder. Verteidigungsminister Peng Dehuai und weitere Spitzen-funktionäre wenden sich gegen Mao, doch die meisten fürchten, wegen ihrer Mitschuld belangt zu werden. Tatsächlich exportiert Peking aus reinen Prestigegründen Getreide. Das Ansehen des Kommunismus à la China ist wichtiger als die Beseitigung des Hungers der eigenen Bevölkerung. Mao aber erklärt: „Es ist besser, die Hälfte der Menschen sterben zu lassen, damit die andere Hälfte genug zu essen hat.“

Von entscheidender Bedeutung in den Volkskommunen ist die Industrieproduktion, als Maßstab für den Fortschritt gilt Stahl. Dieses wird in geschätzt 500.000 kleinen Hochöfen hergestellt, die von etwa vierzig Millionen Dorfbewohnern in deren Hinterhöfen betrieben werden. Sie produzieren allerdings meistens nur Schlacke und höchstens unreines Erz. Das gleiche Bild zeigt sich in der Industrie: Höchstes Ziel stellt die Produktionsmenge dar, die Kostenfrage wird dabei sehr oft übersehen: Bei der Stahlerzeugung liegen die Kosten bei 1.226 Yuan pro Tonne, die jedoch zum staatlich festgelegten Preis von lediglich 250 Yuan verkauft werden muß. Die schonungslose Überlastung der Maschinen führt zu minderwertiger Produktion, schlechtes Material aus den Stahlkombinaten beeinträchtigt zahlreiche Wirtschaftszweige. Die Lebensbedingungen der Arbeiter sind in jeder Weise unvorstellbar. Doch ein Funktionär, der das Planziel verfehlt, muß um seine Karriere bangen. Bei Verstößen gegen Sicherheitsbestimmungen erhält er hingegen nur eine Rüge. „Ein Menschenleben war billig“, vermerkt der Verfasser zutreffend. Es existieren viele Untergrundorganisationen der Bevölkerung, doch ihr Widerstand wird nie zu einer echten Bedrohung für die Macht in Peking.

1961 wird der „Große Sprung“ eingestellt. Aus dem Traum vom kommunistischen Schlaraffenland wurde ein „größenwahnsinniges Menschenexperiment“, „die furchtbarste Katastrophe der chinesischen Geschichte“, wie der Autor resümiert. Aufgrund all seiner intensiven Untersuchungen, die belegt werden, kommt er zu der Schlußfolgerung, daß in jenen Jahren mindestens 45 Millionen Menschen einen unnötigen Tod erlitten. Jeder Leser wird das Buch voller Erschütterung aus der Hand legen. Vielen, die während der 68er-Zeit diesen Massenmörder vergötterten und die Mao-Bibel spazieren trugen, müßte Dikötters Werk die Schamesröte ins Gesicht treiben.

Frank Dikötter: Maos großer Hunger. Massenmord und Menschenexperiment in China. Verlag Klett-Cotta Stuttgart 2014, gebunden, 526 Seiten 29,95 Euro

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