© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  12/14 / 14. März 2014

Die Vorführung des aggressiven Herrn Hitler
Mit dem Einmarsch in die „Resttschechei“ vor 75 Jahren verspielte das Deutsche Reich den letzten außenpolitischen Kredit
Stefan Scheil

Frank Ashton-Gwatkin dürfte überrascht gewesen sein. Als Leiter der Wirtschaftsabteilung des englischen Außenministeriums hatte er im Februar 1939 in Berlin zu tun. Es ging um eine weitere Runde in den damals ebenso dringlichen wie komplizierten Gesprächen über die wirtschaftliche Zusammenarbeit der staatssozialistischen deutschen Vierjahresplanwirtschaft mit der Weltökonomie. Aber der deutsche Außenminister ließ ihn bei dieser Gelegenheit noch etwas anderes wissen: Deutschland erwarte von seiten der Westmächte die Respektierung einer deutschen politisch-wirtschaftlichen Einflußzone in Mitteleuropa. Dafür würden in der Rest-Tschechoslowakei, wie sie nach dem Münchener Abkommen vom Vorjahr noch Bestand hatte, wohl einige Veränderungen stattfinden müssen.

London war vom Einmarsch informiert worden

Was das für Änderungen waren, darüber erkundigte sich Ashton-Gwatkin umgehend bei Joachim von Ribbentrops Mitarbeitern. Er bekam bestätigt, daß eine Ausweitung der deutschen Herrschaft über die Tschechoslowakei bevorstehen würde. Zur Beruhigung wurde hinzugefügt, das sei nur dort geplant, und nicht etwa auch in Ungarn oder Rumänien, wie manche Gerüchte besagten. Hitler persönlich habe beschlossen, daß „die Tschechen ihre Nationalität, die Pässe usw. behalten würden, aber ihre Außenpolitik von einem ‘Deutschen Beauftragten’ in Prag geleitet werden würde.“

Diese offene Ankündigung der Errichtung des „Protektorats Böhmen und Mähren“, einen Monat bevor sie verwirklicht wurde, meldete Ashton-Gwatkin umgehend nach London. Damit lagen sowohl den tschechischen Behörden, die das schon aus anderen Quellen wußten, als auch der britischen Regierung frühzeitig Nachrichten über die geplante Errichtung des Protektorats vor. Man hatte Zeit, über eine Reaktion nachzudenken. In London ging man die Angelegenheit zunächst von der juristischen Seite an. Das Foreign Office gab ein Gutachten darüber in Auftrag, ob ein solcher Schritt des Deutschen Reichs denn gegen irgendwelche internationalen Abkommen verstoßen würde, zum Beispiel eben gegen die Abmachungen von München aus dem Jahr zuvor.

Am 13. März lag ein entsprechendes Gutachten des britischen Außenministeriums vor. Dieses Papier diskutierte in aller Länge die gestellte Frage, ob der angekündigte deutsche Schritt nach Prag einen Verstoß gegen das Münchener Viermächte-Abkommen oder den ebenfalls in München unterzeichneten englisch-deutschen Konsultationsvertrag bedeuten würde. Die Autoren kamen in allen Fragen zu der Einschätzung, daß dies nicht der Fall wäre. Weder das Münchener Abkommen noch der Konsultationsvertrag würden durch die beabsichtige Protektoratserrichtung verletzt werden. Mehr noch: Der Unterzeichner F. K. Roberts stellte ausdrücklich fest, es gebe überhaupt keine juristische Basis für die britische Regierung, von der aus sie gegen die Errichtung des Protektorats protestieren könnte.

Damit bestand einige Tage vor der Reise des tschechischen Präsidenten Emil Hácha nach Berlin in der englischen Regierung nicht nur Klarheit über die deutschen Absichten, sondern auch über deren völkerrechtliche Zulässigkeit, jedenfalls mit Blick auf die englisch-deutschen Beziehungen. Vielleicht fielen die Reaktionen auch deshalb zurückhaltend aus.

Obwohl die westliche Presse im Frühjahr 1939 mit Falschmeldungen über deutsche Invasionsabsichten in Holland, am Panamakanal oder in Rumänien reichhaltig versorgt wurde, blieb es in bezug auf die Tschechoslowakei still. Mit Ian Colvin gab später einer der üblicherweise für entsprechende Pressemeldungen Verantwortlichen auch zu, in diesem Fall bewußt darauf verzichtet zu haben, die ihm vorliegenden Informationen an die Presse weiterzugeben. Er war vom Unterstaatssekretär des britischen Außenamts am 11. März über den unmittelbar bevorstehenden deutschen Einmarsch informiert worden.

Alexander Cadogan versorgte danach auch Außenminister Edward Halifax und den Premier noch einmal mit entsprechenden Informationen. Wie so häufig, erhielt Colvin gleichzeitig eine identische Nachricht aus regimekritischen deutschen Regierungskreisen, ebenfalls mit der ausdrücklichen Anweisung, sie nicht öffentlich zu verwenden. So sollte ein – nach Vorstellung des deutschen Informanten von der Errichtung des Protektorats überraschter – „Mr. Chamberlain lernen, was für eine Art Mensch Hitler ist“.

Eine offizielle britische Intervention auf die Ankündigungen des deutschen Außenministeriums gegenüber Ashton-Gwatkin blieb letztlich vollständig aus. In den Tagen vor dem deutschen Einmarsch fanden innerhalb der britischen Regierung zwar lebhafte Debatten über mögliche vorherige Maßnahmen statt. Premier Chamberlain, Außenminister Halifax, der frühere Amtschef des Außenministeriums Robert Vansittart, sein Nachfolger Alexander Cadogan und etliche andere waren daran beteiligt. Die Gespräche endeten aber mit der lapidaren Entscheidung „nichts zu tun, um Deutschland zu stoppen“. So wurde es möglich, daß man sich in London nach der Errichung des „Protektorats Böhmen und Mähren“ betont und nicht wahrheitsgemäß überrascht gab. Die Legende vom unangekündigten deutschen „Coup“ in Prag als schlagendem Beweis von Vertrags- und Vertrauensbruch begann schnell zu blühen.

Natürlich war der politische Ausbeutungswert zweifelsfrei enorm. Wie immer die juristische Lage sein mochte, zu den jahrelangen Ankündigungen des NS-Regimes, nur alle Deutschen in einem Staat vereinen zu wollen, paßte der Marsch nach Prag nicht. Allgemein klangen noch die lautstarken Versicherungen des deutschen Staats- und Parteichefs aus dem Vorjahr in den Ohren, „keine Tschechen zu wollen“. Nun präsentierte er sich demonstrativ auf der Prager Königsburg.

Informationen und Desinformationen kursierten

Die Gründe dafür waren vielfältig. Zu der bei Hitler grundsätzlich schon länger vorhandenen Absicht, sich die Kontrolle über Böhmen und Mähren zu sichern, kam seit Jahresanfang 1939 eine Reihe dramatischer Meldungen. In London hatten die polnisch-englischen Verhandlungen begonnen. Nach Berichten deutscher Dienststellen aus dem Januar war man auch schon zu Ergebnissen gekommen: „Es würde eine Neuaufteilung verschiedener Gebiete zwischen England und Frankreich vorgenommen werden. (...) Polen sei bei der Aufteilung mit beteiligt.“

Es habe sich gegen das Deutsche Reich „eine neue internationale ‘Mafia’ gebildet“. Personen wie Duff Cooper, der frühere Erste Lord der Admiralität, Tschechiens Ex-Präsident Edvard Beneš und andere seien beteiligt. Man wolle Revanche für „München“ und die solle mit einem bewaffneten Aufstand in der Rest-Tschechoslowakei eingeleitet werden.

Andere meldeten sich laut zu Wort. Der amerikanische Präsident Franklin D. Roosevelt hatte wenige Tage vorher erklärt, die US-Interessengrenzen lägen am Rhein. Im gleichen Gespräch, in dem er Ashton-Gwatkin das Protektorat ankündigte, wies Minister Ribbentrop dann auf Roosevelts neuesten Auftritt auf einer Konferenz in Lima hin. Dort hatte dieser gerade die südamerikanischen Staaten davon überzeugen wollen, sie würden von Deutschland angegriffen werden. Es wurde also eine Menge Information und Desinformation gehandelt, im Frühjahr 1939. Der angekündigte deutsche Coup in Prag mochte in dieser Situation vielleicht wirklich als praktikable Reaktion erschienen sein.

Fotos: Am Londoner Geographie-Institut George Philips & Sons Ltd. werden im März 1939 Europakarten geändert: Überraschung vorgetäuscht; Tschechen blicken verstört auf deutsche Besatzungstruppen am 15. März 1939: Zu den Ankündigungen Hitlers, nur alle Deutschen in einem Staat vereinen zu wollen, paßte der Marsch nach Prag nicht

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