© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  11/14 / 07. März 2014

Unter Kaiser Wilhelm regierte der Fortschritt
Der Historiker Frank-Lothar Kroll analysiert die „Geburt der Moderne“ in der wilhelminischen Gesellschaft vor 1914
Hans-Joachim von Leesen

Wenige Tage bevor sich das Datum der Völkerschlacht bei Leipzig zum 200. Male jährte, las man in der Leipziger Volkszeitung einen Leitartikel, in dem der Redakteur sein Bedauern ausdrückte, daß seinerzeit nicht der französische Kaiser gesiegt hatte, sondern die alliierten Mächte Preußen, Österreich, Rußland und Schweden. Napoleon, so sinngemäß der Journalist, hätte schließlich den Fortschritt nach Europa gebracht. Sein Sieg hätte zudem die Gründung eines Deutschen Reiches 58 Jahre später verhindert, jenes Reiches, das in den folgenden Jahrzehnten zweimal entsetzliches Unheil über Europa gebracht habe. Man reibt sich die Augen. Da werden längst überholt geglaubte Thesen der alliierten Umerziehung über den Irrweg der deutschen Geschichte wieder breitgetreten und Bismarck und die Hohenzollern gleichgesetzt mit Adolf Hitler. Und über allem schwebt der Vorwurf der deutschen Kollektivschuld.

Dieser Geisteshaltung widerspricht allerdings in jüngster Vergangenheit die wachsende Anzahl wissenschaftlicher Werke über die Geschichte des Zweiten Reiches. In der Tendenz widerlegen diese Arbeiten entschieden und wohlbegründet die Darstellungen vom Kaiserreich als „ monströser Schreckgestalt“, als „rückwärtsgewandter autoritärer demokratieferner Obrigkeitsstaat“, dessen Niederlage 1918 selbstverschuldet war. Hätten die Deutschen nicht einen angeblichen „Sonderweg“ im Gegensatz zum westeuropäischen „Normalweg“ eingeschlagen, wäre die deutsche Entwicklung nicht im Nationalsozialismus geendet.

Bevölkerungswachstum und wirtschaftlicher Boom

Der an der Technischen Universität Chemnitz lehrende Historiker Frank-Lothar Kroll legt mit seinem Buch „Geburt der Moderne. Politik, Gesellschaft und Kultur vor dem Ersten Weltkrieg“ ein bemerkenswertes Werk in dieser Richtung vor, das sich durch einen eher wissenschaftlichen statt geschichtspolitischen Ansatz auszeichnet. Er scheut sich auch nicht, mit Hans-Ulrich Wehler einen der prominentesten Verkünder der komplexbeladenen und nationalneurotischen Thesen eines angeblich deutschen Sonderwegs beim Namen zu nennen. Daß Kroll mit dieser sachlichen Sicht auf das deutsche Kaiserreich nicht allein steht, beweist nicht zuletzt die jetzt auch in deutscher Übersetzung vorliegende Monographie „Lehrjahre der Demokratie. Wahlen und politische Kultur im deutschen Kaiserreich“ der US-amerikanischen Historikerin Margaret Lavinia Anderson.

Das Deutsche Reich hatte damals einen enormen Bevölkerungszuwachs zu verzeichnen. Da zugleich die Wirtschaft rapide wuchs, der wissenschaftliche Fortschritt immer neue Möglichkeiten der industriellen Fertigung schuf, trat keine Massenarbeitslosigkeit(wie etwa in England) auf. Nicht zuletzt durch den wachsenden Einfluß der Gewerkschaften, aber auch durch die Einsicht nicht weniger Unternehmer wie durch gesetzliche Regelungen wurden soziale Krisen weitgehend vermieden. Die Arbeitszeit wurde verkürzt, die Kinderarbeit immer weiter eingeschränkt, soziale Absicherungen vermieden in kritischen wirtschaftlichen Zeiten Verelendung, wenn auch das Einkommen der Arbeiter bescheiden war.

Die ersten Tarifabkommen entstanden. Der Adel verlor schnell seinen allein auf Privilegien beruhenden Einfluß und machte Platz für eine bürgerliche Gesellschaft, deren Maßstab Leistung und Erfolg waren. Hier galten Arbeitsdisziplin, Tüchtigkeit, kulturelles Bildungs-streben, Pflichterfüllung und Solidität. Reformbewegungen wie die Lebensreformer, die Jugendbewegung, der Heimatschutz, Schulreformen wirkten gegen Entartungen. Moderne Großstädte entstanden, an der Spitze Berlin, aber genauso Hamburg, München, Dresden, Düsseldorf, Stuttgart. Tatsächlich kann man das damalige Deutschland als eines der modernsten Länder der Welt einordnen.

Frank-Lothar Kroll zeichnet eine Wandlung der gesamten deutschen Gesellschaft um die Jahrhundertwende nach. Dazu gehörte das fortschrittliche Wahlrecht zum Reichstag, das allen Männern ab 25 die Möglichkeit zur Stimmabgabe einräumte, was zu einer hohen Wahlbeteiligung führte. Man sollte daran erinnern, daß im Deutschen Reich das allgemeine, gleiche, geheime und direkte Wahlrecht galt, wie sonst in Europa nur noch in Frankreich und Griechenland.

Daß diese Stimmen politische Wirksamkeit hatten, bewies schon die Tatsache, daß kein Reichsgesetz ohne Zustimmung des Reichstages in Kraft treten konnte. Dazu gehörten auch die fortschrittlichsten Sozialgesetze der Welt. Das wird deutlich, wenn man die Verhältnisse zwischen Maas und Memel mit jenen in den übrigen Industrienationen der damaligen Welt in Bezug setzt. Eine Stärke von Kroll besteht darin, seinen Fokus auf ebendiesen Vergleich zu richten und nicht Verhältnisse späterer Zeiten als Maßstab zu nehmen. Tatsächlich hat die Tendenz in der Vergangenheit, die wilhelminischen Verhältnisse – etwa die damalige Wohnsituation in den Arbeitervierteln oder die teilweise große soziale Ungleichheit – anhand unterschiedlicher Zeitachsen zu beurteilen, die Wahrnehmung einer „Geburt der Moderne“ im wilhelminischen Deutschland in den Schatten gerückt. Krolls Buch korrigiert dieses historische Trugbild eindringlich.

Frank-Lothar Kroll: Geburt der Moderne. Politik, Gesellschaft und Kultur vor dem Ersten Weltkrieg.

Bebra Verlag, Berlin 2013, gebunden, 224 Seiten, 19,90 Euro

Foto: Reiterstandbild von Kaiser Wilhelm II. vor der Kölner Hohenzollernbrücke: Das damalige Deutsche Reich kann man ohne weiteres als eines der modernsten Länder der Welt einordnen

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