© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  11/14 / 07. März 2014

Britannia über allen Wellen
Der deutsch-britische Flottenwettlauf basierte hauptsächlich auf einer paranoiden Propaganda
Jan von Flocken

Es war ein ebenso seltsames wie bedrohliches Phänomen, das die Öffentlichkeit Großbritanniens im Jahre 1909 heimsuchte. Die Marineleitung des Landes, gepaart mit einer weithin aggressiven Presse und Teilen der politischen Klasse, schürte einen Zustand allgemeiner Panik und Hysterie, der als „Naval Scare“ (Marine-Schrecken) in die Annalen des Vereinigten Königreiches einging. Befürchtungen wurden laut, daß die britische Kriegsflotte gegenüber den Seestreitkräften der anderen europäischen Mächte, insbesondere der im Aufbau befindlichen deutschen Hochseeflotte, im Schwinden begriffen sei und damit der Sicherheit des Landes höchste Gefahr drohe. Nicht selten war sogar von einer gänzlichen Hilflosigkeit gegenüber einer deutschen Invasion die Rede, genannt „Invasion Scare“ (Überfall-Furcht).

Dies war um so erstaunlicher, als Großbritannien 1906 mit der Konstruktion einer völlig neuen Serie von Großkampfschiffen, „Dreadnoughts“ genannt, dem Rüstungswettlauf zur See eine bis dato unerhörte Dimension verliehen hatte. Im März 1908 legte der britische Marineminister Reginald McKenna dann noch einen wesentlich vergrößerten Etat für die Kriegsmarine vor. Dies sollte den Vorsprung gegenüber der Flotte des Deutschen Reiches jederzeit gewährleisten. „Increase without cease“ (Vergrößern ohne Unterlaß) brachte McKenna diese neue Rüstungspolitik auf einen griffigen Nenner.

In Deutschland hatten nach dem Regierungsantritt von Kaiser Wilhelm II. 1888 die Kriegs- und Handelsmarine einen merklich höheren Stellenwert erhalten. Die Kriegsflotte des Reiches war damals militärisch und technisch weit überholt. Sie bestand aus 14 größeren Schiffseinheiten, von denen ganze drei, sogenannte Panzerfregatten, einen höheren Gefechtswert besaßen.

Da das Deutsche Reich aber seit 1884/85 über mehrere Kolonien in Afrika und Fernost verfügte, stellte die Sicherung ihrer Seeverbindungen eine neue Aufgabe dar. Wilhelm II. erkannte das klar und forcierte konsequent die Modernisierung und zahlenmäßige Verstärkung der Kriegsmarine. „Unsere Zukunft liegt auf dem Wasser“, diese Äußerung des Kaisers vom September 1898 wurde zum geflügelten Wort. Im Jahr zuvor hatte er das Ziel der Flottenrüstung beschrieben: „Es soll unter dem schützenden Panier unserer deutschen Kriegsflagge unserem Handel, dem deutschen Kaufmann und den deutschen Schiffen das Recht zuteil werden, was wir beanspruchen dürfen – das gleiche Recht, was von Fremden allen anderen Nationen gegenüber zugestanden wird.“

Die deutsche Marine war demgemäß nicht als weltweit agierende, gegen die Versorgungslinien des britischen Empire gerichtete Streitmacht konzipiert. Schon aufgrund ihrer geographisch nachteiligen Lage und aus einer zahlenmäßig weit unterlegenen Position als Heimatflotte mit kurzer Reichweite konnte sie England niemals ernsthaft in Gefahr bringen. „Die große Zahl von Schiffen und die hohe Qualität der britischen Flotte wurden weiter beibehalten und in den heimischen Gewässern waren so viele dieser Schiffe konzentriert, daß damit ständig eine erhebliche zahlenmäßige Überlegenheit über die deutsche Hochseeflotte gewährleistet werden konnte“, so der britische Marinehistoriker und Ex-Admiral J. Richard Hill in „Krieg der Panzerschiffe“ (2000). „Englands Marine besaß die unangefochtene Vormachtstellung auf den Weltmeeren, die mehr als 70 Prozent des Planeten ausmachen“, urteilt der betont deutschlandkritische US-Historiker David Fromkin („Europas letzter Sommer“, 2004). Mit dem Aufbau einer großen Flotte „schickte Deutschland sich an, England Konkurrenz zu machen. (…) Aus heutiger Sicht war das eine Politik der Selbstverteidigung.“

Noch im Jahre 1906, als London das Wettrüsten mit dem „Dreadnought“-Bau weiter verschärfte, besaß die britische Kriegsmarine 62 große Schlachtschiffe, denen Deutschland nur 25 entgegensetzen konnte, Frankreich aber 34 und die USA 29. Da mutet es geradezu mutwillig an, wenn die Briten sich von einer deutschen Hochseeflotte provoziert, ja bedroht fühlten, obwohl die Marinerüstung der USA in jenen Jahren noch expansiver geriet und die Vereinigten Staaten spätestens seit dem Amerikanisch-Spanischen Krieg 1898 eine aggressive Kolonialpolitik auch zu Lasten der Briten in Westindien und Fernost verfolgten.

Doch zu Zeiten des „Naval Scare“ stellten interessierte Kreise vor allem die deutsche Flotte als tödliches Monstrum dar. Im Unterhaus behauptete der frühere Premierminister Arthur James Balfour, er habe Informationen, wonach Deutschland bis zum Sommer 1911 über 17 Dreadnoughts verfügen werde; tatsächlich waren zu diesem Zeitraum nur neun derartige Schiffe im Dienst. Selbst der Start des neuen Luftschiffes LZ 5 in Friedrichshafen wurde Ende Mai 1909 als Gefährdung des Inselstaates interpretiert. Zu jener Zeit äußerte sogar Britanniens Finanzminister David Lloyd George den Verdacht: „Ich glaube, die Admirale liefern Falschinformationen, um uns Angst einzujagen.“

Handfeste Interessen der britischen Stahlindustrie

Tatsächlich steckten dahinter handfeste Geschäftsinteressen: Die britische Kohle- und Stahlindustrie sowie die Werften versprachen sich bei einer Verstärkung der Kriegsflotte finanziell höchst profitable Großaufträge. So kostete der Bau eines 160 Meter langen und 18.000 Tonnen fassenden Dreadnought-Kriegsschiffes die ungeheure Summe von 1,784 Millionen Pfund Sterling (heute etwa 680 Millionen Euro). Hinzu kamen Bestellungen ausländischer Mächte. Brasilien gab schon 1907 zwei Großkampfschiffe bei britischen Werften in Auftrag, zwei weitere orderte Chile bis 1910. Politiker im regierenden Kabinett von Herbert Henry Asquith sahen überdies die Möglichkeit, durch eine Herstellung von Dreadnoughts die hohe Quote der britischen Arbeitslosigkeit zu senken.

Die Panik von 1909 kam diesen Kreisen mindestens sehr gelegen, wenn sie nicht sogar von ihnen geschürt wurde. Denn am Ende ging das Parlament noch über die Forderungen der Rüstungslobby hinaus. Winston Churchill, zur Zeit des „Naval Scare“ britischer Handelsminister, beschrieb es in seinen Memoiren mit schöner Offenheit: „Letztlich wurde eine eigenartige und charakteristische Lösung erreicht. Die Admiralität hatte sechs Schiffe verlangt, die Wirtschaftsfachleute plädierten für vier, und schließlich einigten wir uns auf acht.“

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