© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  11/14 / 07. März 2014

Enzyklopädie der Unausgewogenheit
Wikipedia: Das Online-Nachschlagewerk ist fest in der Hand linksgerichteter Editoren / Erster Teil
Stefan Michels

Wikipedia ist eine besondere Erfolgsgeschichte der digitalen Revolution. Anfangs belächelt, hat die Enzyklopädie, bei der jeder mitmachen kann, sich zur größten Inhaltsseite im Internet entwickelt und ihre altehrwürdigen Konkurrenten aus Papier vom Markt verdrängt.

Die deutsche Wikipedia, die quantitativ nur noch von der englischen Version übertroffen wird, erfreut sich traditionell besonderer Wertschätzung; Hauptgründer Jimmy Wales hob persönlich ihre Solidität hervor. Aber wer kann wirklich die Qualität eines Datenberges bemessen, der über 1,6 Millionen Artikel umfaßt und mehr als 20.000 aktive Mitarbeiter zählt?

Externe Kritik aus Medien und Wissenschaft hat sich bislang mit dem diffusen Charakter der Enzyklopädie schwergetan und erschöpft sich überwiegend in der Diskussion kontroverser Einzelaspekte.

Unterdrückung der Kategorie Linksextremismus

Trotz nahezu völliger Transparenz wirkt das Datengetümmel der Wikipedia auf das Auge des außenstehenden Beobachters so ermüdend wie der Anblick eines Ameisenhaufens. Einen Überblick besitzt niemand. Zu rasant das Wachstum, zu weit das Wissensfeld und zu flach die Hierarchien, um griffige Ansatzpunkte für haltbare Beurteilungen liefern zu können. In einem Kosmos, der fast nur von anonymen Schreibern bevölkert wird, scheint der für Kritik so wichtige Adressat zu fehlen. Dabei braucht es nur etwas Kenntnis der internen Strukturen und einfacher Beobachtungsgabe, um der politischen Schlagseite des Nachschlagewerks auf die Spur zu kommen.

Eine Volltextsuche in der Wikipedia nach politischen Sammelbezeichnungen ergibt folgende Trefferzahlen: 3.070 Artikel enthalten die Bezeichnung „rechtsextrem“, aber nur 215 „linksextrem“; 1.042 „rechtsradikal“ und 527 „linksradikal“; 570 „rechtspopulistisch“ und 38 „linkspopulistisch“. Dasselbe Bild bei den entsprechenden Begriffen: Der Ausdruck „Rechtsextremismus“ taucht in 1.423 Artikeln auf, „Linksextremismus“ aber nur in 122; „Rechtsradikalismus“ in 312, „Linksradikalismus“ in 43; „Rechtspopulismus“ in 109, „Links­populismus“ in 13. Die ungleiche Häufigkeitsverteilung dieser Gegensatzpaare läßt nur zwei Schlüsse zu: Entweder ist Radikalismus von rechts ein weitaus stärker verbreitetes politisches Phänomen, in Deutschland wie in der Welt, oder die subjektive Wahrnehmung der Wikipedia-Autoren ist ideologisch verzerrt.

Daß letzteres zutrifft, läßt sich anhand der Systematik der Kategorien ablesen, die sich am unteren Ende der Artikel befinden. Kategorien dienen zur Einordnung des Themas in einen begrifflichen Gesamtzusammenhang, vergleichbar den Schlagwortverzeichnissen der alten Zettelkataloge.

Die Kategorie Rechtsextremismus ist mit Unterkategorien und Artikeln prall gefüllt, wohingegen die Kategorie Linksextremismus dreizehn Jahre nach Gründung der Wikipedia noch nicht einmal existiert. Trotz zahlreicher Versuche wurde ihre Erstellung immer wieder von der Benutzerschaft abgelehnt. Die abenteuerliche Begründung eines ausführenden Administratoren: Es gebe „keine objektivierbare Definition von Linksextremismus“. Die Folge ist eine schiefe Statik der Enzyklopädie, deren praktische Bedeutung kaum überschätzt werden kann: Wikipedia ordnet weder einschlägige Parteien oder Organisationen noch deren Mitglieder als linksextremistisch ein. Sie kennt auch keine Straftaten, die aus einer linksextremen Motivation heraus begangen wurden, noch die Opfer ebendieser Gewalt. Und weil der Linksextremismus so undefinierbar ist, gibt es auch kein Autorenportal, in dem dieser diskutiert werden könnte. All dies und vieles mehr besteht aber wohlgemerkt schon lange für den Rechtsextremismus. Ein klarer Fall sogenannter systemischer Voreingenommenheit, für die es zwar einen internen Arbeitskreis gibt, der aber untätig bleibt.

Deutscher Sonderweg in der Wikipedia

Dabei steht die Unterdrückung der Kategorie eindeutig im Widerspruch zum Regelwerk, das die Relevanz eines Themas vor allem anhand des Umfangs der wissenschaftlichen Diskussion bestimmt, die ihm nachprüfbar zuteil wird.

Die zu diesem Zweck üblicherweise herangezogenen Suchabfragen von Google Scholar und Google Books zeigen Abertausende wissenschaftlicher Werke, die sich in der einen oder anderen Form mit Linksextremismus auseinandersetzen, von der alltäglichen Benutzung des Begriffs in der Berichterstattung von Presse, Funk und Fernsehen ganz abgesehen.

Nicht einmal der Umstand, daß das Bundesamt für Verfassungsschutz mit Selbstverständlichkeit auch ein Arbeitsfeld zur Beobachtung des Linksextremismus pflegt, hat die Wikipedianer bisher zur spiegelbildlichen Anlage ihres Kategoriensystems bewegen können.

Damit ist die deutsche Wikipedia von allen Sprachversionen die einzige, die sich einer Kategorisierung des Linksextremismus verweigert – ein negatives Alleinstellungsmerkmal, das es Linksaußen-Medien erleichtert, unter dem Frühwarnsystem für Radikale hinwegzuschlüpfen und selbst die Deutungshoheit darüber zu gewinnen, was als rechts gilt.

So werden etwa in der neutral anmutenden Kategorie „Informationsmedium zum Rechtsextremismus“ eine Reihe von „antifaschistischen“ Publikationen aufgeführt, als ob es sich dabei um objektive Informationsquellen handeln würde.

Auch andere Kategorien sind ungleich befüllt. So listet die Kategorie Islamfeindlichkeit mehrere rechtspopulistische Parteien wie die Pro-Bewegung und Die Freiheit auf, die sich aber am demokratischen Prozeß nachweislich friedlich beteiligen. Dagegen ist die einzige aktive Organisation, die als christenfeindlich eingeordnet wird, die nigerianische Terrorgruppe Boko Haram, die mit grausamen Massakern an Christen immer wieder in die Weltschlagzeilen gerät. Das erscheint asymmetrisch. Alle anderen islamistischen und dschihadistischen Organisationen, die Christen in Asien und Afrika offen diskriminieren und verfolgen, fehlen indes sogar ganz, so daß die Vergleichsmaßstäbe in jeder Hinsicht aus den Fugen geraten sind.

Überdies wartet die Kategorie zur Islamfeindlichkeit mit einer gar nicht so subtilen Manipulation des Lesers auf. Dort wird nämlich als vorgeblich themenverwandtes Gebiet direkt auf den „Rassismus“ und die marxistische Lehrmeinung des „Rassismus ohne Rassen“ verlinkt, obgleich die Verquickung der Feindschaft gegen Religion und gegen Rasse in der Wissenschaft mehrheitlich abgelehnt wird und deshalb auch in der Wikipedia keinen Niederschlag im Kategoriensystem findet. Allgemein sind Verlinkungen an dieser Stelle höchst ungebräuchlich und eigentlich nur dann rechtens, wenn eine orthographische Verwechslungsgefahr besteht.

Der Zweck der deplazierten Links, die seit der Anlage der Kategorie vor zwei Jahren bestehen, ist daher klar: „Islamfeinde“ sollen augenfällig in die Nähe von Rassisten gerückt werden.

Ein linker Zeitgeist weht auch im Artikelbereich. Der „Rechtspopulismus“ hat im September 2010 einen eigenen Artikel erhalten, der „Linkspopulismus“ hingegen erst drei Jahre später. Dieser wurde zudem mit einem Löschantrag bedacht. Begründung: inhaltliche Mängel. Gerade bei Löschdebatten um politische Reizthemen, treffend auch als Löschhölle bezeichnet, gerät der diskursive Ansatz der Wikipedia leicht zur Farce.

Die Hälfte der Mitarbeiter sind Studenten und Schüler

Bei vielen langgedienten Wikipedia-Editoren kann man ihr Abstimmungsverhalten blind vorhersagen, und die Neutralen sind selten stark genug, um das vorhandene Lagerdenken zu überwinden. Fast schon unfreiwillig komisch wirkt die enzyklopädische Befassung mit der Deutschfeindlichkeit. Während das Antonym „Ausländerfeindlichkeit“ wenigstens einen mittelprächtigen Artikel besitzt, landet man bei der Eingabe von „Deutschfeindlichkeit“ im wilhelminischen Zeitalter, wo Briten und Amerikaner den Deutschen ihr Plätzchen an der Sonne neiden. Deutschfeindlichkeit nach 1918? Nicht bei der Wikipedia. Ausgerechnet die armen Schweizer müssen als einsames Gegenbeispiel ihren Kopf hinhalten.

Woher kommt diese Unausgewogenheit in der Wikipedia? Die Antwort liegt in der Sozialstruktur ihrer Editoren begründet. Die Art und Weise, wie die Enzyklopädie funktioniert, begünstigt die Mitarbeit bestimmter Bevölkerungskreise vor anderen. Wer in der Wikipedia Inhalte aus dem Boden stampfen will, benötigt Zeit über alles.

Die Erstellung eines gewissenhaft recherchierten, vollständigen Artikels beansprucht mehrere Wochen und bewegt sich damit im Bereich einer anspruchsvollen Hauptseminararbeit. Ein derartiger Arbeitsaufwand übersteigt in aller Regel das Zeitpensum, das Arbeitnehmer in Vollzeit oder Eltern, die mit der Kindererziehung beschäftigt sind, zur Verfügung haben.

Die kontinuierliche Beobachtung von Artikeln, bei der man fremde Textänderungen überprüft und gegebenenfalls wieder rückgängig macht, erfordert zusätzliche geistige Aufmerksamkeit und zeitliche Flexibilität. Dies gilt besonders, wenn inhaltliche Differenzen in Endlosdebatten ausarten, die über Tage und Wochen andauern können und häufig den Charakter einer bewußten Ermüdungsrede annehmen. In dieser Situation entscheidet über den Ausgang eher das größere Zeitbudget und Standvermögen als das bessere Sachargument. Die Folge ist eine negative soziale Auslese besonders unter den gesellschaftlichen Leistungsträgern, die das engste Zeitkorsett tragen, den Erwachsenen mit Beruf und/oder Kindern.

Die Umfrage des Betreibers Wikimedia im Jahr 2010, an der rund 170.000 Wikipedianer teilnahmen, scheint diesen Zusammenhang zu bestätigen. Demnach sind drei Viertel Männer, zwei Drittel Singles und gerade einmal 15 Prozent haben Kinder. 30 Prozent gaben an, in Vollzeit zu arbeiten, wohingegen Studenten (und Schüler) die Hälfte der Mitarbeiter stellen. Jeder zweite Editor ist zwischen 18 und 29 Jahre alt.

Doch die tatsächliche soziale Basis der Wikipedia ist noch viel schmaler. (Fortsetzung in der nächsten Ausgabe)

de.wikipedia.org

 

Wikipedia – von Laien verfaßt

Die Wikipedia ist die größte Enzyklopädie im Internet. Sie wurde im Jahr 2001 von den US-Amerikanern Jimmy Wales und Larry Sanger gegründet. Im Gegensatz zu herkömmlichen Nachschlagewerken werden ihre Einträge nicht von anerkannten Experten, sondern vor allem von Laien verfaßt. Die Mitarbeit ist freiwillig, anonym und unbezahlt; jeder kann sich innerhalb von Sekunden anmelden und unbegrenzt mitwirken. Finanziert wird die Enzyklopädie durch private Kleinspenden. Trotz der offenen Struktur ist die Gestaltungshoheit mittlerweile auf einen bestimmten Autorentypus übergegangen, der über ein rares Gut verfügt: Zeit.

Foto: Schiefes Bild in der digitalen Welt: Wenn es um politisch heiße Eisen geht, bekommt bei Wikipedia die Objektivität linke Schlagseite

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