© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  11/14 / 07. März 2014

Multiethnische Wirrnis
Bosnien-Herzegowina: Soziale Mißstände lassen das Land erbeben, zudem stellen Bosniaken den Status quo in Frage
Carl Gustav Ströhm

Als Reaktion auf die Unruhen in Bosnien und Herzegowina will die EU-Chefdiplomatin Catherine Ashton nach Bosnien reisen, um sich mit Regierungspolitikern sowie mit Vertretern der dortigen Demonstranten zu treffen.

Seit Wochen befindet sich das Land im Ausnahmezustand. Das Bild von verbrannten Autowracks und angezündeten Gebäuden erinnert zwangsläufig an das Jahr 1992, als das Land von einem blutigen Krieg heimgesucht wurde. So wurde das Stadtarchiv Sarajevos mit seinen wertvollen Dokumenten ein Opfer der Flammen.

Als auslösendes Moment der gewalttätigen Revolte gelten soziale Mißstände und der Unmut über die Unfähigkeit und korrupte Haltung der politischen Führung. Kritisiert werden ein durchschnittlicher Monatslohn von rund 300 Euro, eine hohe Arbeitslosigkeit von rund 28 Prozent.

Doch die Verengung auf das Thema „Sozialproteste“ greift zu kurz. Vor allem die nationale Frage spielt im Rahmen der Demonstrationen eine besondere Rolle. Im Mittelpunkt stehen hier die bosnischen Moslems. In Mostar marschierten bosniakische Demonstranten mit den Rufen „Das ist Bosnien“ durch den kroatischen Teil der Stadt und verwüsteten mit dem Einsatz von Molotowcocktails nicht nur das Rathaus, sondern auch die Parteizentrale der dortigen HDZ (Kroatische Demokratische Union).

„Bosniakischer Frühling“ droht Serben und Kroaten

Der Gouverneur des Kantons Herzegowina-Neretva, Denis Lasić, zeigte sich im Anschluß davon überzeugt, daß die Demonstrationen in Mostar und die damit verbundenen Gewaltakte von bosnischen Nationalisten von langer Hand geplant worden sei. Tatsächlich tauchen bei den Demonstrationszügen immer wieder bosniakische Fahnen auf, jedoch nie kroatische oder gar serbische.

Aus dem „Bosnischen Frühling“ ist längst ein „Bosniakischer Frühling“ geworden. Dabei geht es den Bosniaken in erster Linie nicht darum, korrupte Politiker zu stürzen, sondern vielmehr um das Streben, das durch das Daytoner Abkommen im Jahr 1995 installierte, fein austarierte Netz der zehn Kantone in der bosniakisch-kroatischen Föderation, die jeweils für die Verwaltung, Polizei und das Schulwesen zuständig sind, auszuhebeln. Ziel ist die Vereinigung Bosniens.

Knapp 20 Jahre nach Dayton sind die Wunden des Krieges frisch und der Konflikt in Bosnien noch lange nicht gelöst. Angesichts der Eskalation drohte der frühere EU-Sonderbeauftragte und jetzige Hohe Repräsentant für Bosnien-Herzegowina, der Österreicher Valentin Inzko, mit der Entsendung von EU-Truppen. Nun ist es an Ashton, Bosniaken, Kroaten und Serben vom Fortbestand des EU-Projektes eines multiethnischen Bosniens zu überzeugen.

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