© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  10/14 / 28. Februar 2014

Getrübte Stimmung statt Siegeslaune
Reportage: Der Umsturz der Ukrainer war erfolgreich, nun geht das Leben weiter / Eindrücke aus einem Land im Moment der Revolution
Billy Six / Ronald Gläser

Das Lagerfeuer durchbricht die nächtliche Finsternis. „Anhalten? Ich bin doch nicht verrückt!“ Oleksander, dem Fahrer, ist die dörfliche Wachmannschaft entlang der Überlandstraße nicht geheuer. Der Ukrainer fährt seinen Mercedes Sprinter auch diese Woche von Berlin gen Heimat. Warentransport und vier Passagiere, die ihre Familie besuchen wollen.

Nur kurz strahlen die Gesichter, als es aus dem Radio heißt, das Parlament habe die alte Verfassung von 2004 wieder in Kraft gesetzt und damit die Macht des Präsidenten beschnitten. Subjektiv ein Glücksfall, weil damit auch die Straßenblockade hinter dem Grenzübergang Korczowa/Krakiwiec, jenseits der südostpolnischen Grenze, ihr Ende gefunden hat. Die Gegner des 2010 gewählten Präsidenten Viktor Janukowitsch bleiben dennoch durch Teelichter-Ketten entlang der Straße verewigt: Ein Mahnmal für die offiziell 82, inoffiziell bis zu 200 Toten der Zusammenstöße in der vergangenen Woche.

Öffentliche Gebete für die offiziell 82 Getöteten

Ankunft in Lwiw, der 700.000-Einwohner-Stadt im Westen, die zu österreich-ungarischer Zeit Lemberg hieß. Auch hier gibt es einen „Maidan“, den Protestplatz gegen das herrschende System. In der Regel halten sich hier 200 bis 300 stetig wechselnde Zuhörer auf, die sich mit ihren Regenschirmen vor der Bühne postieren, wo Reden gehalten, Nachrichten abgespielt oder auch öffentliche Gebete abgehalten werden.

Das gleiche Bild gab es auf dem Maidan in Kiew, bis dort am Montag vor einer Woche die Lage eskalierte: Weitgehend friedliche, ältere Bürger versammelten sich, um gegen die Regierung zu demonstrieren. Die Revolutionäre hielten die ganze Straße besetzt. Das war so, als wäre in Berlin der Prachtboulevard Unter den Linden vom Brandenburger Tor bis zum Zeughaus gesperrt, weil dort Regierungsgegner Dutzende von Zelten aufbauen.

Die Demonstranten hatten seit Wochen Barrikaden, eine Bühne und eine Infrastruktur zur Versorgung Tausender errichtet. Sie verfügten über ein eigenes Pressezentrum und eine paramilitärische Einheit, die 10.000 mit Knüppeln bewaffnete Männer umfaßte.

Aus Janukowitschs Sicht unhaltbare Zustände. Der Präsident muß gehofft haben, daß die Kälte die Demonstranten irgendwann vertreiben würde, aber das tat sie nicht. Erst spät erteilte er den Befehl zum harten Vorgehen. Der Versuch, den Maidan zu räumen, war so hemdsärmelig vorbereitet, daß er scheiterte: Statt die Handynetze abzuschalten und die ausländischen Journalisten rauszuwerfen, tat er nichts dergleichen und ließ die Welt damit Zeuge dieses letzten barbarischen Aktes seiner Herrschaft werden. Janukowitsch hatte schon drei Tage vor der Eskalation im ukrainischen Fernsehsender Inter eingeräumt, die Propagandaschlacht verloren zu haben. Aber auch durch Schußwaffeneinsatz konnten die aufgebrachten Demonstranten nicht mehr vertrieben werden. Zudem gingen seine eigenen Anhänger von der Fahne. Und der Westen, auch in Gestalt von Frank-Walter Steinmeier, drängte ihn zum Nachgeben. Also entschloß er sich zur Flucht.

Statt Kriminalität gibt es Solidarität

In Lemberg haben sie die atemberaubenden Bilder aus Kiew auf der Leinwand verfolgt. „Viele Protestierer sind in Bussen nach Kiew gefahren“, sagen die verbliebenen Aktivisten in ihren zwei Zelten gegenüber der Statue von Taras Schewtschenko, dem bedeutendsten Lyriker des Landes aus dem 19. Jahrhundert. Die jungen Besetzer sind hauptsächlich Studenten. Gerne nehmen sie einen deutschen Staatsbürger bei sich auf: Schlafen im Wanderzelt – beheizt durch einen Holzofen. Die Stimmung ist ähnlich locker wie beim ägyptischen Tahrir-Aufstand gegen Mubarak. Mit dem Unterschied, daß zahlreiche junge Frauen eng auf eng dabei sind.

Medizinstudentin Katharina berichtet, nicht tatenlos zu Hause rumsitzen zu wollen, während ihr „Volk getötet“ werde. „Ich helfe hier mit Putzen und Teekochen“, Dinge, welche die jungen Männer nicht so gerne machten. „Dafür beschützen sie uns“, sagt Katharina. Einer der Halbstarken hat sich in Tarnuniform gekleidet – und präsentiert seine Pistole. Niemand kann sagen, woher er die Kampfutensilien hat.

Jura protzt nicht mit seinen Waffen. Der 24jährige, der bis vor kurzem noch Telekommunikation studierte, hat sein Geschäft geschlossen und schiebt mit seinem Auto die Freiwilligen-Schicht. 2.500 bis 5.000 Zivilisten patrouillierten wie er durch die Straßen, um für Sicherheit zu sorgen. Das gleiche Bild in Kiew: Revolutions-Kommandos patrouillieren an Kreuzungen und vor Gebäuden.

Seit einigen Tagen gibt es keine staatliche Polizei mehr. Die Ordnungshüter sind „übergelaufen“, nach Hause gefahren oder harren der Dinge in ihren Kasernen. Dennoch hat in Lemberg eine bemerkenswerte Alltagsnormalität überlebt. Familien flanieren. Geschäfte sind geöffnet. Es ist sicher. „Die Kriminalität ist sogar um zwei Drittel zurückgegangen“, sagt Jura. „Es herrscht Solidarität.“ Ihm geht es wie allen anderen Gesprächspartnern in Lemberg: Die Freude über den Sieg ist getrübt durch den Kiewer Blutzoll, der im Vergleich mit den arabischen Revolutionen (bisher) sehr gering ausgefallen ist.

Das größte Problem hier: alkoholisierte Autofahrer. Einer wird am Außenring von der Bürgertruppe aufgegriffen. Streng korrekt werden ein Alkoholtest durchgeführt und die Schlüssel an die herbeigerufenen Eltern übergeben.

Recht und Ordnung sind auch die Visionen des „Rechten Sektors“. Die neue Jugendbewegung der Revolution sieht sich als Bewahrer der Tradition, „nationalistisch und konservativ“. Vor ihrem Zelt wird strammgestanden, wenn die Nationalhymne erklingt. Auch drinnen läuft alles nach strengen Regeln ab. Die Jugendlichen sammeln sich, um dem Gespräch mit Volodymyr (24) zu lauschen. Der verheiratete Geschichtsstudent ist einer aus dem Führungskomitee. Rechts sei etwas Gutes, bekennt er. „Das steht für Gesetze, gegen Korruption und Oligarchie.“

Stolz verweist er darauf, daß es die Bildungselite sei, welche derzeit rebelliere. Von niemandem würden sie sich mehr hinters Licht führen lassen: Nicht von Rußland. Nicht von der Europäischen Union. Gerade von letzterer gingen nämlich auch Ideen aus, welche die Bewegung nicht teilen könne: Multikulturalismus oder Homo-Ehe zum Beispiel. „Wir müssen erst ein starkes Land werden“, so Volodymyr, „dann können wir erfolgreich mit Europa verhandeln.“

Foto: Gedenken an die „Märtyrer“ auf dem Maidan im Zentrum Kiews: Gerade das hemdsärmelige Vorgehen der Regierung verschärfte die Situation

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