© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  10/14 / 28. Februar 2014

„Sarrazin ist gefährlich“
Gibt es „Tugendterror“ in Deutschland? Wie funktioniert er? Der Medienforscher und ehemalige Vorkämpfer der Achtundsechziger-Bewegung Frank Böckelmann hat ihn als „Jargon der Weltoffenheit“ in seinem neuen Essay-Band analysiert.
Moritz Schwarz

Herr Dr. Böckelmann, der neue Sarrazin ist da – lesen Sie den?

Böckelmann: Natürlich.

Warum?

Böckelmann: Ich erwarte mir viel Empirie und Aufklärung. Sarrazin betet nicht einfach die Heiligen Kühe an, sondern sagt Dinge, die unterscheiden, trennen, ein- und ausschließen.

Immer wieder wird ihm allerdings vorgeworfen, seine Zahlen stimmten nicht.

Böckelmann: Ob Sarrazin stets die richtigen Daten hatte, kann man ja anzweifeln, entscheidend aber ist, daß er den offenen Kampf leibhaftiger Interessen eröffnet.

Was meinen Sie?

Böckelmann: Dieser Sarrazin hatte doch tatsächlich die Impertinenz, die wirtschaftlichen Eigeninteressen der deutschen Gesellschaft zu erkunden und unter diesem Aspekt die demographische Entwicklung, die massenhafte Zuwanderung und die Nivellierungswährung Euro zu bewerten. So etwas ist heute anrüchig. „Was sind das für Leute, die zu uns kommen?“ hat er gefragt. „Ist diese Art der Zuwanderung für uns per Saldo etwa von Übel?“ Das war natürlich ungeheuerlich, wo es doch feststeht, daß die Zuwanderer uns bereichern und von uns selbst befreien. Bei all dem haftet Sarrazin die Imago eines biederen Buchhalters an, etwas Überkorrektes, sogar verkniffen Korrektes. Dieser Charakterzug – er soll ja in Deutschland häufig vorkommen – macht ihn für die politische Klasse so gefährlich.

Die Kanzlerin findet ihn bekanntlich „nicht hilfreich“ und gebot Sarrazin indirekt, doch besser zu schweigen.

Böckelmann: Angela Merkel ist eine große Konsens-Technikerin, eine Meisterin der Konfliktprophylaxe. Sie hat viel Spürsinn für den kleinsten gemeinsamen Nenner aller öffentlichen Debatten – die Berufung auf das Unstrittige. Die allgegenwärtigen Postulate unserer Gesellschaft – wie „Selbstbestimmung“, „Chancengleichheit“ oder „Demokratie“ – benutzt sie als das, was sie sind, nämlich als Verkehrsregeln. Der sture Sarrazin verkörpert den phänomenologischen und charakterlichen Gegentyp. So einer ist Merkel natürlich instinktiv zuwider.

Gibt es denn den „neuen Tugendterror“, wie Sarrazin ihn nennt?

Böckelmann: Na, ich bitte Sie. Wir haben einen stetig wachsenden Bedarf an Skandalisierung, an Empörung und Verachtung, an der Aufdeckung von Niedertracht aller Art. Um Gottes willen: Ungleichbehandlung! Abschottung! Festhalten an alten Rollenbildern! Vorteilsnahme! „Rassismus“! Dabei hat sich die Toleranzdebatte längst verselbständigt. Es geht nur noch um die Frage, wer oder was tolerant ist. Und der Streit um die Sache wird stillgelegt.

Wieso funktioniert das?

Böckelmann: Weil dieser Tugendterror strenggenommen weder moralisch noch ideologisch begründet ist, sondern zeitgemäß automatisch abläuft. Wesentliches Merkmal ist, daß seine Formeln – etwa sexuelle Vielfalt, Selbstbestimmung, Buntheit statt Monotonie, Weltoffenheit – im öffentlichen Diskurs fast völlig inhaltsleer sind. Im Grunde weiß man nicht, wovon man redet.

Sie charakterisieren diesen inhaltsleeren Diskurs in Ihrem eben erschienenen Essay-Band als den „Jargon der Weltoffenheit“.

Böckelmann: Mit diesem täuschen wir vor, einen Standpunkt, eine Wirklichkeit zu haben. Wir behaupten, das Leben würde reicher, lebendiger, intensiver werden. Dabei nehmen wir aber im Bann der „westlichen Werte“ – die wichtigsten Postulate habe ich genannt – eine mentale und politische Nullposition ein und glauben auch noch, eine fortschrittliche Haltung zu haben, ohne uns zu irgend etwas bekennen zu müssen.

Indifferenz als globale Erlösung?

Böckelmann: Sie sagen es. Wir postulieren einfach, daß sich alle Überzeugungen gegenseitig tolerieren sollten – abgesehen von den „intoleranten“. Dabei sind die „weltoffenen“ Werte dieses Jargons gleichsam virtuelle Leitwährungen, konvertierbar in beliebig viele Gesinnungen. Und statt einen Standpunkt zu haben, bleiben wir in der Vorläufigkeit gefangen, im Status der Potentialität.

Warum ist dieser Jargon so populär?

Böckelmann: Der taktische Vorteil ist doch klar: Wir vermeiden jedes Risiko – hoffen wir jedenfalls. Es ist das Interesse an Unanfechtbarkeit, was den Jargon der Weltoffenheit so erfolgreich gemacht hat. Die Berufung auf Selbstbestimmung, Gleichheit, Toleranz und Vielfalt ist mehr als nur eine Ideologie des sogenannten linken Lagers. Im Gegenteil, was sich heute für links hält, ist längst im sozialliberalen Dauerton untergegangen, im marktliberalen Mainstream. Eine Forderung wie die nach „Selbstbestimmung“ hat reale Durchschlagskraft. Sie hat etwas Unabweisbares. Unterschätzen Sie nicht ihre entwaffnende Wucht in der Diskurspraxis.

Sagten Sie nicht eben, es sind Leerformeln?

Böckelmann: Eben darum. Es mag paradox anmuten, aber gerade weil sie Leerformeln sind und jeden Sinngehalt verloren haben, sind sie unwiderstehlich. Warum? Weil ihre Unwiderstehlichkeit das Ergebnis der gesamten sozioökonomischen Entwicklung im 20. Jahrhundert ist: Auflösung von Großfamilien und ortsgebundenen Gemeinschaften, Verstädterung, Geschlechterneutralität, Bürokratisierung, Massendemokratie, Massenproduktion, Konsumzwang, gleichschaltende Individualisierung.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Böckelmann: Gern, wir werden zum Beispiel dazu erzogen, das Äußere eines Menschen, sein Gesicht, seine Mimik und Gestik, seine Sprache und seine Sprechweise, sein Geschlecht und sein Alter, für gleichgültige Merkmale zu halten, die nichts zu besagen haben. Alles andere wäre Vorurteil, Rassismus – „Racial profiling“. Und so werden uns immer mehr Gleichgültigkeitsleistungen abverlangt – und demnächst volkspädagogisch beigebracht und in der Alltagspraxis überprüft. Im Namen der Gleichstellung aller Lebens- und Familienformen wird gerade das französische Steuersystem reformiert. Und das deutsche Adoptionsrecht. In den Clubs mancher Großstädte werden die Frauen- und Männertoiletten zu Unisex-Toiletten umgewidmet, damit sich die Intersexuellen nicht mehr diskriminiert fühlen müssen. Jeder soll seine eigene, einzigartige sexuelle und ethnische Identität haben – und der Weg, dies zu erreichen, ist das Gleichgültigkeitstraining. Einheitlichkeit als Vorspiel der Vielfalt.

Also ist der Jargon der Weltoffenheit sozusagen der Humus des „neuen Tugendterrors“?

Böckelmann: Natürlich, denn dieser Gleichheits-, Toleranz- und Vielfaltsdiskurs spricht fast immer nur von sich selbst. Also braucht er, um nicht völlig leer zu sein, etwas, wovon er sich absetzen kann, braucht Schreckbilder von Nichttoleranten, von Vorurteilsvollen, von denjenigen, die Grenzen ziehen und ausschließen und an das Böse von gestern und vorgestern erinnern.

In Kiew errichten die unzufriedenen Bürger Barrikaden, in Berlin stellen sie sich einen „Sarrazin“ – manche vielleicht auch einen „Böckelmann“ – ins Buchregal.

Böckelmann: Natürlich fällt da auch die relative Prosperität in unserem Land ins Gewicht. Aber es kommt hinzu, daß die Mehrheit der Deutschen virtuose Borderliner sind. Wir halten unser Bauchgefühl und unser Pflichtbewußtsein streng auseinander – ich sage jetzt mal „wir“. Wir kitzeln unser Bauchgefühl, indem wir Sarrazin lesen und die Faust in der Tasche ballen, Sozialdemokraten und Linke eingeschlossen. Aber wenn der Wahltag kommt und wir als gute schuldbewußte deutsche Staatsbürger aufgerufen werden, wissen wir, was sich gehört. Wie die Schüler in der Schule, wenn sie vom Lehrer aufgerufen und aus lästerlichen Gedanken gerissen werden. Das gilt jedenfalls für die große Mehrheit. Und bei den Bildern aus Kiew fällt Politikern und Journalisten immer nur dasselbe ein: Keine Gewalt! Keine Korruption! Das aber sind keine politischen, sondern gesinnungsethische Kategorien. Übrigens: Es gibt in Deutschland nicht weniger Korruption als in der Ukraine, nur ist sie hier subtiler.

Die Kanzlerin wäre wohl empört, wenn Sie hörte, daß Sie die „historisch erkämpfte“ Weltoffenheit unseres Landes lediglich für eine Phrase, einen Jargon halten.

Böckelmann: Vor allem bei Angela Merkel, Claudia Roth und Joachim Gauck, aber auch vielen anderen Gesinnungs-Gutachtern ist die Rede von Weltoffenheit eine standardisierte Erfolgsmeldung: Es ist erreicht, Deutschland hat gelernt, wir sind auf Weltniveau! Als Herr Gauck auf der Münchner Sicherheitskonferenz seine Rede über „Deutschlands Rolle in der Welt“ hielt, feierte er die „offene Weltordnung“ und nahm „deutsche Interessen“ überhaupt nur insoweit in den Blick, als sie im Einklang mit „grundlegenden Werten“ standen. Es darf offenbar keine deutschen Interessen geben, die nicht zugleich die Interessen aller Erdenbürger sind. Auf der Europakarte könnte statt „Deutschland“ der Name „Welt“ stehen. Während wir gleichzeitig die Völker der nichtwestlichen Kontinente penetrant mit den Menschenrechten belehren, um westliche Interessen durchzusetzen.

Aber das kann Sie doch nicht wundern: Wenn Deutschland weltoffen ist, hat es seinen geschichtlichen Sinn erfüllt.

Böckelmann: Wenn nur noch ein völlig weltoffenes Deutschland zu rechtfertigen ist, entspräche Deutschland seiner Existenzberechtigung tatsächlich am besten dadurch, daß es sich in Nichts auflöste.

Sie sagen, offener Widerstand à la Sarrazin gegen den „Tugendterror“ habe keinen Zweck. Warum?

Böckelmann: Das sage ich nicht. Ich sage aber, daß der Widerstand gegen den „Tugendterror“ die nahezu uneingeschränkte Geltung der diskursiven Leitwährungen des Jargons der Weltoffenheit nicht ankratzen kann. Wer gegen den Tugendterror von heute aufbegehrt, beruft sich ebenfalls auf ihn – siehe Sarrazin.

Inwiefern?

Böckelmann: Sarrazin versucht den öffentlichen Konsens-Spieß umzudrehen: Ihr, die ihr mit eurer Toleranz hausieren geht, seid selber intolerant. Ich fürchte aber, damit gerät er in ein Dilemma. Denn man wird ihm antworten: Keine Meinungsfreiheit für die Feinde der Meinungsfreiheit! Und er wird erneut erwidern: Ihr seid selbst diese Feinde! Und so weiter und so fort. Ein Durchbruch gelingt damit nicht.

Sie empfehlen in Ihrem Buch stattdessen die Tugend der „störrischen Geduld“. Aber ist das nicht innere Emigration, gesellschaftliche Kapitulation?

Böckelmann: Ich sage, daß störrische Geduld erforderlich sei, wenn wir den „Vorhang des regulierten Verstands“ beiseite schieben wollen. Um zu erkennen, was heute geschieht: daß nämlich der politische Konsens, wie er sich im Jargon der Weltoffenheit ausspricht, von „einschneidenden Ereignissen“ untergraben wird. Das ist alles andere als Fatalismus.

Was für Ereignisse meinen Sie?

Böckelmann: Da kann ich Ihnen etliche nennen: Etwa die Bewältigung und Wiederkehr der Finanzkrise. Die Aushöhlung der globalen Suprematie der Vereinigten Staaten. Die geheimdienstliche Überwachung des Weltnetzes – ihre Perfektionierung und ihre Selbstlähmung. Das Verhalten der Entgrenzten, also der Bildschirmarbeiter, der Dauer-mobilen und Interkontinentalreisenden, die ihr Leben überwiegend in virtuellen Dimensionen verbringen. Die Zusammenschaltung der Gehirne durch die Verbreitung mobiler Endgeräte. Die Einstellung der Kinder und Enkel der Zugewanderten gegenüber weiteren Zuwanderergruppen und der Verhaltenswandel innerhalb der ethnischen Gemeinschaften. Der innerislamische Glaubenskrieg zwischen Sunniten und Schiiten. Worum geht es da eigentlich? Das Unerwartete kann zu Reaktionen, Störmanövern und Bewegungen inspirieren, die nicht durch die vertraute Polarisierung von „intolerant“ und „weltoffen“ zu klassifizieren und abzutun sind.

Sie sagen, in den Kategorien der Nicht-Weltoffenheit – also in verbindlichen Institutionen wie Staat, Nation, Volk – läge etwas Emanzipatorisches. Laut Jargon der Weltoffenheit gilt aber genau das Gegenteil.

Böckelmann: Damit eine Person oder eine Position weltoffen sein kann, muß sie einem Ort zugehören, von dem aus sie sich zur Welt hin öffnen kann. Sonst wäre sie nur Scharnier und Schalter, „Schnittstelle“ im Transitverkehr. In unserer Nullposition sind wir aber nirgendwo anwesend. Wir haben keine Wirklichkeit, geistern umher als Wirklichkeitsanwärter. Das Bekenntnis zur Weltoffenheit führt uns in eine Zerreißprobe: Wollen wir dazugehören oder nur möglicherweise leben? In dieser Lage hat die erklärte Zugehörigkeit zu einem Volk, einer Nation, einem Ort tatsächlich etwas Befreiendes. Sie erlaubt uns, in der Welt zu sein. Heimat kann eng, dürftig und grausam sein, aber keine Heimat zu haben, setzt uns dem Horror vacui aus.

Einen Ausweg sehen Sie in der „Wiederkehr des Volkes“. Was meinen Sie damit?

Böckelmann: Im Zustand der Ortlosigkeit beginnen die Schatten- und Momentpersönlichkeiten auf eine Rückkehr des Ortes zu hoffen, anders gesagt, eben auf eine „Wiederkehr des Volkes“. Wenn uns eine solche Wiederkehr nicht durch ein Wunder oder eine Katastrophe geschenkt wird, bleibt nur die Rückbesinnung auf das Eigene. Das deutsche Eigene und das europäische Eigene sind allerdings keine Bestände, auf die wir umstandslos Zugriff haben. Derzeit sind sie uns entglitten. Plastizität und Verbindlichkeit gewinnt dieses Eigene nur in einer Lage kollektiver Herausforderung – wenn wir uns gemeinsam bedroht oder angegriffen sehen und uns zur Wehr setzen. Die gemeinsame Gegenwehr, das ist das Volk.

 

Dr. Frank Böckelmann, war zusammen mit Rudi Dutschke und Dieter Kunzelmann Mitglied der Subversiven Aktion, einer der zentralen Vorläufer-Initiativen, aus denen die Revolte von 1968 entstand. 1966 initiierte Böckelmann die „Studiengruppe für Sozialtheorie“ und war Wortführer der „antiautoritären Fraktion“ im Münchner SDS. Wegen Landfriedensbruchs, schweren Aufruhrs und Gefangenenbefreiung wurde er zu Gefängnisstrafen auf Bewährung verurteilt. Geboren 1941 in Dresden, studierte er in München Philosophie und Kommunikationswissenschaft und arbeitete als Publizist (Twen, Stern, u.a.) und Medienforscher. Für sein Buch „Die Gelben, die Schwarzen, die Weißen“ erhielt er 1999 den Sonderpreis „Das politische Buch“ der Friedrich-Ebert-Stiftung. 2004 machte er mit der Studie „Bertelsmann. Hinter der Fassade des Medienimperiums“ auf sich aufmerksam. Nun ist in der Edition Sonderwege sein Essay „Jargon der Weltoffenheit. Was sind unsere Werte noch wert?“ erschienen.

Foto: Die Kanzlerin gebietet zu schweigen: „Dieser Sarrazin hat doch tatsächlich die Impertinenz, die Eigeninteressen der deutschen Gesellschaft zu erkunden. Das ist natürlich ungeheuerlich.“

 

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