© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  09/14 / 21. Februar 2014

Pankraz,
Thilo Sarrazin und die Deutungsreserven

Die Weichen werden gestellt, bevor der Zug kommt. In fadester Weise macht sich Jan Fleischhauer in seiner Spiegel-Kolumne über das aktuelle Buch von Thilo Sarrazin, „Der neue Tugendterror“, lustig, obwohl es noch gar nicht erschienen ist. Hat er denn wenigstens die Verlagsankündigung der DVA ordentlich gelesen? Man darf daran zweifeln.

Sarrazin beklage in dem Buch, so der ahnungsvolle Kolumnist, die hierzulande angeblich mangelnde Meinungsfreiheit – und dabei betrage doch die Startauflage seines „Tugendterrors“ volle 100.000 Exemplare! Was wolle Sarazzin eigentlich? Offenbar gehe es bei ihm gar nicht um Meinungsfreiheit, sondern um gekränkte Eitelkeit. Er fühle sich (als hoher SPD-Politiker a. D.) von seinen einstigen Funktionärsgenossen ruchlos ignoriert und in die Ecke gestellt und blase das nun zur allgemeinen Staatsaffäre auf. Der Fall sei zum Lachen.

Er ist aber leider überhaupt nicht zum Lachen. Denn in Deutschland herrscht seit längerem tatsächlich ein Geist des Konformismus und der öffentlichen Sprachregelung, welcher der Meinungsfreiheit und der sie konstituierenden Diskurskultur äußerst abträglich ist. Immer mehr warnende Stimmen erheben sich, auch Pankraz hat die heranrollende Meinungsdiktatur schon oft beklagt. Heute möchte er seine Leser einmal nicht mit konkreten Vorfällen konfrontieren, sondern ihren Blick auf die theoretische, gleichsam systemische Seite der Misere lenken.

Beistand findet er dabei im Werk des französischen Diskurstheoretikers und „Poststrukturalisten“ Jean-François Lyotard (1924–1998), der seinerzeit die Diskurstheorie von Jürgen Habermas so sorgsam auseinandernahm, freilich nicht ohne sich dabei selber gewisse Blößen zu geben. Lyotard teilte die fundamentalen politischen Diskurspositionen ein in einerseits „Konsens-Apostel“, andererseits „Dissens-Verherrlicher“ – Vorhandensein und Wertegrad von wahrer Diskursfreiheit hingen entscheidend vom jeweiligen Verhältnis jener konträren Positionen ab. Es müsse „das rechte Maß“ gefunden werden.

Konsens-Apostel sagen, es komme (auch und gerade) in der pluralistischen Gesellschaft darauf an, ein komplettes System von rationalen, allgemein zustimmungsfähigen Begriffen, Werten und Normen zu schaffen, denen sich der einzelne im politischen Diskurs anzugleichen habe. Dissens-Verherrlicher sehen hingegen in der Postulierung von Konsenspflicht eine tödliche Gefahr für den Pluralismus und fragen aggressiv danach, wer denn die Begriffe und Normen festlegen und den Diskurs organisieren und überwachen solle.

Pankraz hält solchen Streit, bei allem Respekt vor Lyotard, dennoch für einen um des Kaisers sprichwörtlichen Bart. Er würde den Pluralismus gern um eine Drehung weitertreiben und die Behauptung wagen, daß die Frage „Konsens oder Dissens?“ auf einer typisch rationalistischen Fiktion beruht. Unser Sozialsystem ist kein hehres Geisterreich, in dem entweder Konsens oder Dissens herrschen. Es ist vielmehr ein Konglomerat historisch zufällig zusammengeschobener Teilbereiche und Subsysteme, die von ihren Trägern teilweise rationalisiert werden können, teilweise aber auch nicht.

Es gibt Bereiche, deren Selbstbewegung puren Notwendigkeiten gehorcht und sich über jede eventuelle Zustimmungsverweigerung hinwegsetzt. Andere leben aus mehr oder weniger ehrwürdigen Traditionen oder „Groß-Erzählungen“ (Lyotard), die ohne viel Wenn und Aber eine Art Konsens ermöglichen. Wieder andere (beispielsweise das sogenannte Geistesleben im engeren Sinne) sind strukturell durch und durch pluralistisch ausgelegt. Versuche zur künstlichen Konsensherstellung sind dort so überflüssig wie schädlich, weil sie immer auf die Überwältigung des einen Standpunkts durch den anderen hinauslaufen und damit das System ärmer machen.

Besonders verhängnisvoll wirkt es sich aus, wenn Konsens-Apostel, durch Erfolge von Schwindel befallen, sich auf Teilbereiche stürzen, die durch die Logik der Sachen selbst oder durch das Befolgen lebensweltlich erprobter Traditionen funktionieren. Es wird dann durch den „Diskurs“ meistens nur ein mörderisches Tohuwabohu angerichtet, und am Ende funktioniert alles viel schlechter oder überhaupt nicht mehr. Auch Dissens-Verherrlicher können auf diese Art Systeme kaputtmachen, indem sie sich etwa auf einen unvermittelbaren Standpunkt kaprizieren.

Bedeutet das nun, daß es keinen wirklichen Dialog, keine rationale Verständigung über die Lager und Gruppen hinweg gibt, zumindest heute in der voll säkularisierten Gesellschaft nicht? Jean-François Lyotard war dieser Meinung und schloß daraus, daß „sämtliche generellen Deutungsreserven des Abendlands“ erschöpft seien. Doch wieso, so wäre sowohl gegen Lyotard wie auch gegen seine auf geistige Hegemonie erpichten linken Gegner zu fragen, wieso sollen „Deutungsreserven“ lediglich in den eng begrenzten Möglichkeiten eines halbwegs fair absolvierten Diskurses liegen?

Der Diskurs braucht ja selber erst einmal Deutungsmaterial, um in Gang kommen zu können, und seine Methoden reichen, wovon sich jeder leicht überzeugen kann, an andere Deutungsverfahren, beispielsweise an die religiöse oder poetische, unmittelbar mit der Seelenlage des Deuters und seiner Zuhörer verbundene Auslegung, nicht heran. Wer sich um abendländische Deutungsreserven sorgt, der sollte dafür sorgen, daß die von den Diskursfanatikern im rationalistischen Überschwang zugeschütteten Verfahren wieder freigelegt werden.

Um den Pluralismus brauchte man dabei keine Angst zu haben. Er ist ja ein Kind des menschlichen Freiheitswillens, und dieser wurzelt seinerseits in der größten und edelsten „Erzählung“ des Abendlands, der Erzählung (also dem Mythos) vom freien Individuum. Diesen Mythos, statt ihn in faden Witzeleien zu ertränken, immer wieder mit höchster Wirkungskraft auszulegen und anzumahnen, schützt auf Dauer am besten gegen totalitäre Konsens-Apostel.

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen