© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  08/14 / 14. Februar 2014

Der Flaneur
Da donnert der ICE heran
Bernd Rademacher

Gedankenverloren radele ich nach Hause. Stadtrand, hier fangen die Felder an. Kein Autoverkehr. Mitten auf der Straße steht ein junger Mann mit freiem Oberkörper. Bei den Temperaturen! Abwesend stiert er in eine unbestimmte Richtung. Ein betrunkener Osteuropäer? Ich mache lieber einen weiten Bogen um ihn, man weiß ja nie. Die Dauerbaustelle auf der großen Brücke nervt. Oben stehen immer Schaulustige und gucken stundenlang den Bauarbeitern zu, fasziniert von Baggern und schwerem Gerät. Große Jungs. Wenn ein Zug über die Brückentrasse donnert, erschrecken sie manchmal, weil sie so vertieft waren.

Jetzt weiß ich, was der vorhat. Ich ziehe sofort mein Handy raus und wähle den Notruf.

Als ich schon auf der Brücke bin, sehe ich den Halbnackten von eben. Er steht an der Brückenauffahrt und ruft: „Hey Leute! Hey Leute!“ Er winkt mit den Armen. Offenbar will er Aufmerksamkeit erzeugen, aber niemand nimmt ihn zur Kenntnis. Was will der bloß?

Dann macht er kehrt und geht auf den Gleiskörper zu, der an dieser Stelle ungesichert ist. Jetzt weiß ich, was der vorhat! Ich ziehe sofort mein Handy raus und wähle den Notruf. Ich nenne meinen Namen, den Standort und daß eine männliche Person Suizid auf der Bahnstrecke Richtung Hamburg begehen will.

Die Umstehenden schauen mich plötzlich fassungslos an. Sie hatten überhaupt nicht wahrgenommen, was um sie herum vorgeht. Jetzt kommt es darauf an, wer schneller ist: die Polizei oder der ICE. Lange, bange Sekunden. Die Polizei macht das Rennen. Es hat keine Minute gedauert. Sie rennen durch Schnee über das Gleisbett und holen den jungen Mann von den Schienen. „Haben Sie angerufen?“ fragt mich einer der Polizisten. Ich sage: „Ja – und?“ „Selbstmörder. Psychiatrie“, antwortet er. Die Polizeiwagen fahren ab. Ich radele weiter. Die Passanten wenden sich wieder den Bauarbeiten zu. Da donnert der ICE über die Brücke.

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