© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  08/14 / 14. Februar 2014

Die elektronisch gesteuerte Wespe ist schon da
Gehirn-Maschine-Schnittstellen: Karlsruher Forscher schwärmen von der aufregenden Welt der Cyborgs
Christoph Keller

Die Bezeichnung „Cyborg“ klingt nach viel Science-fiction. Der Begriff leitet sich vom englischen cybernetic organism ab, kybernetischer Organismus also. Tatsächlich sind Cyborgs den Liebhabern dieses Genres als Zwitterwesen bekannt, die übermenschliche Fähigkeiten entwickeln, weil sie ihren Organismus technisch aufgerüstet haben.

Für Stefan Giselbrecht, Bastian E. Rapp und Christof M. Niemeyer, Experten für „Biologische Grenzflächen“ am Karlsruher Institut für Technologie, weist der Begriff indes nicht in futuristische Sphären. Denn jeder Patient mit Herzschrittmacher oder komplexen Prothesen erweitere seine Körperfunktionen mittels technischer Systeme und sei damit ein Cyborg. Und daher sind Kombinationen von Mensch und Maschine nicht länger den Phantasiegeschöpfen zuzuteilen, sondern stehen seit langem im Mittelpunkt von Grundlagenforschungen zu „intrakorporalen medizinischen Systemen“, die ein gewaltiges Therapiepotential bergen.

Andocken an die Nervenzellen des Gehirns

In diesen „aufregenden Bereich“, an der Schnittstelle zwischen Chemie, Biomedizin und Ingenieurswissenschaften, gewährt der Beitrag über die „Chemie der Cyborgs“ Einblick, den das Karlsruher Trio zwar einer Fachzeitschrift (Angewandte Chemie, 125/2013) anvertraute, der aber dank didaktischer Klarheit auch einem Laienpublikum verständlich ist.

Ihr Überblick beginnt mit altbekannten Phänomenen. Denn eigentlich könne man technische Hilfsmittel im Körper bis in die Römerzeit zurückverfolgen, als die ersten Zahnimplantate aufkamen. Danach tat sich lange Zeit wenig, bis Ende des 19. Jahrhunderts die mechanische Prothetik und Gelenkplastik die orthopädische Praxis bereicherten. 1938 gelang erstmals der Ersatz eines Hüftgelenks. Wegen des Mangels an gewebefreundlichen Materialien vergingen allerdings weitere fünf Jahrzehnte, bevor Kunststoffimplantate Hüft-, Knie- und Schulteroperationen zu Routineeingriffen werden ließen. Die Vermeidung von Entzündungs- und Fremdkörperreaktionen ist seitdem eng mit den nach und nach verfeinerten Angeboten der Oberflächenchemie von Implantaten verknüpft. Moderne Methoden ermöglichen heute die Erzeugung von Beschichtungen mit bioaktiven Eigenschaften, die eine optimale Gewebeintegration ermöglichen.

Von diesen Innovationen und den „enormen Fortschritten in der Mikroelektronik und Halbleitertechnologie“ profitierten überdies elektronische Implantate wie der 1958 erstmals eingesetzte Herzschrittmacher, bioelektronische Hilfsgeräte für Schwerhörige, Parkinson-Patienten oder jene Implantate für medikamentenresistente Kranke, die ihnen durch Hirntiefenstimulation Schmerzlinderung verschaffen.

Ein sich ausweitendes Anwendungsgebiet eröffnet die Robotik, wo man an komplexen Neuroprothesen arbeitet. Gehirn-Maschine-Schnittstellen (BMI) sollen die Kontaktierung der Nervenzellen des Gehirns ermöglichen. Die BMI-Forschung hat einen langen Weg hinter sich und kann auf spektakuläre Durchbrüche bei der Kreation tierischer Cyborgs zurückblicken. In Insekten und Mollusken konnten elektronische Systeme integriert werden, die das Verhalten dieser relativ primitiven Organismen steuern. An niederen Lebewesen erprobt, attestieren die Karlsruher Forscher der BMI-Technik, sie sei inzwischen „zunehmend auch für Anwendungen in höheren Organismen – sogar im Menschen – geeignet“. Schlüsselkonzepte wie die Nutzung von Energie im Wirtsorganismus mittels Biobrennstoffzellen oder die Verwendung mikrofluidischer Implantate für die kontrollierte Medikamentenfreisetzung, etwa bei der Behandlung von Diabetes durch In-vivo-Dosierung von Insulin, seien längst bekannt.

Käfer mit implantierten Elektroden als Waffe

Der Fernsteuerung des Verhaltens auch des menschlichen Organismus durch chemische Signale stünde daher nichts im Wege. Im Prinzip – denn, wie die Autoren einräumen, einerseits seien Operationen am offenen Gehirn, trotz 50jähriger Erfahrung mit Eingriffen in Primatenhirne, weiterhin risikoreich. Andererseits werfen Verfahren zur Fernsteuerung von Verhalten „ethische Bedenken“ auf. Auch die heute beinahe als traditionell einzustufende, bei einer Vielzahl von Krankheiten wirksame Tiefenstimulation gelte als „ethisch umstrittene Methode“.

Die primäre Anwendung von BMIs lasse sich unter die Kurzformel „Bewegung durch Gedanken“ fassen. Dabei gehe es um Signalableitung, die es erlaube, die neuronale Aktivität einer Cortexregion des Gehirns mit Kontrollbefehlen für einen Körperteil zu verbinden. Nach der Erprobung im Tierexperiment ist die Implantation von Prothesen mit BMIs in Nervensystem und Muskeln des Menschen, beispielsweise von Sprachhilfen und Handprothesen für gelähmte Patienten, erfolgreich verlaufen.

Überhaupt seien in jüngster Zeit erstaunliche Fortschritte bei der Verkoppelung ferngesteuerter robotischer Instrumente mit dem menschlichen Gehirn erzielt worden. Schwer gelähmte Tetraplegiker, die unfähig sind, ihre Extremitäten zu kontrollieren, hätten mit Hilfe eines robotischen Systems, das durch ein BMI direkt mit ihrem Gehirn verbunden sei, gelernt, per „Gedankensteuerung“ Objekte zu greifen.

Geht hier das Signal von den Nervenzellen zum Roboterarm, ist, wie bei Tiefenstimulation und Herzschrittmacher, die Bahn auch umgekehrt offen, um Signale in das Gehirn einzuspeisen. Science-fiction-Fabulierer sind hier den Tüftlern an „Bio-Grenzflächen“-Projekten aber noch voraus. Denn die BMIs sind vorerst ungeeignet, einen gesamten Organismus zu kontrollieren, da die Gehirne der meisten Lebewesen zu komplex seien. Bei niederen Tieren, bei Schaben, Motten, Käfern oder Heuschrecken laufe es hingegen besser. Cyborgkäfer mit implantierten Elektroden könnten über eine „Betriebszeit“ von drei Stunden gesteuert werden. Damit sei ein Einstieg in die Herstellung miniaturisierter Flugobjekte gelungen – für militärische, kommerzielle oder akademische Zwecke. Die Firma Backyard Brains verkaufe bereits „Roboschaben“, deren Bewegungsrichtung durch Mikrostimulation zu ändern ist.

Zu großen Hoffnungen berechtigten die „Quantensprünge“ in der Produktion dehnbarer und biokompatibler Materialien, die sich als Träger mikro- und nanoskaliger elektronischer Schaltkreise eignen. Diese flexible Nanoelektronik füge sich nahtlos in die Struktur natürlichen Gewebes ein, was Anwendungen in der zellulären Biophysik und regenerativen Medizin erleichtere.

Ungeachtet sozialer und ethischer Bedenken glauben die Verfasser Zeugen eines faszinierenden und revolutionären Prozesses zu sein, da die „neue bahnbrechende Technologie“ der Cyborgs für sie offenbar mehr Chancen als Risiken biete.

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