© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  08/14 / 14. Februar 2014

Das neue 1984
Data-Mining: Das Geschäft mit den Daten läuft auf hohen Touren, kaum ein Konsument kann sich ihm entziehen
Elliot Neaman

Telefondaten, E-Mails und sogar Informationen von Spiele-Apps werden, wie wir mittlerweile wissen, in riesigen Datenbanken gespeichert. Seit Edward Snowden die Aufmerksamkeit auf die umfangreichen Spionage-Kapazitäten der US-Sicherheitsbehörde NSA lenkte, herrscht allseits Empörung über die Art und Weise, wie die Regierung ihre Macht mißbraucht, um im Privatleben ihrer Bürger herumzuschnüffeln.

Indes vollzieht sich im privatwirtschaftlichen Sektor ein so rapider technologischer Wandel, daß den meisten Menschen nicht einmal bewußt ist, wie sehr die Fortschritte auf dem Gebiet des sogenannten „Data-Mining“ unsere Privatsphäre bedrohen. Gemeint ist die Erfassung, Nutzung und der potentielle Mißbrauch von Daten, die wir freiwillig, wenn auch oft unwissentlich, an die unterschiedlichsten Privatunternehmen, von Großkonzernen bis hin zu kleinen Start-ups weitergeben.

Die Regierung hat – und nutzt – die Kapazität, auch diese Daten im Namen der nationalen Sicherheit abzufangen. So sind bereits mehrere große Telefon- und Internetanbieter in den NSA-Skandal verwickelt. Diese Allianz zwischen zwei Großen Brüdern – Regierung und Privatwirtschaft, dem Leviathan und dem Datenkraken – stellt die eigentliche Gefahr dar. Die Fachmesse für Verbraucherelektronik, die jedes Jahr im Januar in Las Vegas stattfindet, wird zu den wichtigsten Barometern für aktuelle Trends auf dem Gebiet der Technik gerechnet. In diesem Jahr war eine deutliche Entwicklung weg vom traditionellen Computer hin zu tragbaren Geräten zu beobachten, die mit dem Internet verbunden sind: Kleidungsstücke mit in den Saum eingenähtem GPS oder auch Geräte zur Steuerung verschiedener Haushaltsfunktionen von der Klima- über die Alarmanlage bis hin zur Überwachungskamera.

Das Publikum kürt jedes Jahr die aufregendste Neuerscheinung – in diesem Jahr fiel die Wahl auf Skulp Aim, ein am Körper angebrachtes Gerät zur Messung von Körperfett und Muskeltonus. Auf den ersten Blick eine harmlose und durchaus nützliche Erfindung, die in Echtzeit Daten liefert, die zur medizinischen Vorbeugung verwendet werden können. Viele Experten sind überzeugt, daß Apple derzeit an der Entwicklung einer iWatch arbeitet, die eine Vielzahl medizinischer Daten zur Verfügung stellen soll.

Es stellt sich jedoch die Frage, was mit den Daten passiert und wer alles Zugriff darauf haben wird. Versicherungskonzerne, die dann die Krankenversicherungsbeiträge entsprechend anpassen? Die Regierung, die wissen will, ob eine Person, die unter dem Verdacht steht, psychisch labil zu sein, als Bedrohung der nationalen Sicherheit einzustufen ist? Wem gehören die Daten, die von einem Hemd mit eingebautem GPS erfaßt werden und Angaben über Wohn- und Aufenthaltsort und die Gewohnheiten dieser Person liefern, und wie werden sie von wem verwendet?

Vor kurzem kaufte Google in einer der größten Übernahmen der Firmengeschichte das von ehemaligen Apple-Mitarbeitern gegründete Unternehmen Nest. Nest hat sich auf die Herstellung automatisierter Haushaltsgeräte spezialisiert – von Sensoren gesteuerte Thermostate und Rauchmelder mit Selbstkorrekturfunktion, die über WLAN mit dem Internet verbunden sind. In diesen Produkten sieht Google offensichtlich die Zukunft der Informationstechnologie.

Der Suchmaschinen-Riese hat längst Profile sämtlicher Nutzer angelegt, er weiß, was wir lesen, wohin wir reisen, wer zu unserem Freundeskreis zählt usw. Diese aus der virtuellen Welt gewonnenen Daten können freilich in die Irre führen, und ihrer Nützlichkeit sind natürliche Grenzen gesetzt. Der logische nächste Schritt wäre, in unsere Wohnungen einzudringen und zu beobachten, wie wir in der realen Welt leben. Von mit Kameras und Mikrophonen ausgestatteten Thermostaten und Rauchmeldern bis zu einer Orwellschen Welt der Totalüberwachung ist es nur ein kurzer Weg – im Grunde sind wir heute schon viel weiter: Orwells Big Brother, der Inbegriff staatlicher Allmacht und Willkürherrschaft, war nur ein Fernsehbildschirm, der zugleich als Überwachungskamera fungierte. In der Schönen neuen Welt, auf die wir zusteuern, ist eine weitaus intensivere Überwachung unseres Privatlebens mittels Kameras und anderer Geräte zur Datenerfassung möglich.

Auf dem Gebiet der Verbraucherwerbung sind Werbeagenturen eifrig mit der Entwicklung von Strategien zur Überwachung unseres Kaufverhaltens beschäftigt, die alles Vorherige in den Schatten stellen. In der nicht allzuweit entfernten Zukunft werden Einzelhandelsgeschäfte in der Lage sein, die Präferenzen von Kunden zu protokollieren, indem sie ihre Augenbewegungen verfolgen, wenn sie Waren aus dem Regal nehmen und mustern. Jedesmal, wenn wir mit Kreditkarte zahlen oder unsere Telefonnummer angeben, um an einem Bonusprogramm teilnehmen zu können, stimmen wir der Aufnahme unserer Daten in eine Datenbank zu, die auf einem riesigen virtuellen Markt feilgeboten wird. Wenig später tauchen bei jeder Google-Suche Anzeigen für Produkte auf, die wir bereits gekauft haben oder die man nach Meinung des Unternehmens kaufen würde.

Mittlerweile machen sich die Wunderkinder, denen wir diese Geistesblitze verdanken, auch in der politischen Arena verdient. Barack Obamas Sieg über Mitt Romney war nicht zuletzt dem Team junger Computer-Genies geschuldet, die im Zuge seines Wahlkampfes mit unfehlbarer Genauigkeit das Wahlverhalten zu analysieren und Mikro-Zielgruppen anzusprechen verstanden. Obamas hauptverantwortlicher Datenforscher Rayid Ghani ist momentan dabei, eine bahnbrechende Strategie zur Nutzung von Data-Mining zur Analyse sozialpolitischer Probleme zu entwickeln.

Firmen vernachlässigen bestimmte Konsumenten

Ghani begann seine Laufbahn bei Accenture, einem Unternehmen, das Algorithmen zur Untersuchung des Konsumverhaltens entwickelt. Zu seinen Erfindungen im vergangenen Wahlkampf zählte die Erfassung des Fernsehverhaltens von Wählergruppen, um die Wahlkampfwerbung direkt auf diese Zielgruppen abzustimmen. Jedoch ist dies erst der Anfang einer Entwicklung, die sich in zukünftigen Wahlkämpfen auf ganzer Linie durchsetzen wird.

Wie jeder andere technologische Fortschritt können diese neuen Anwendungen für gute und weniger gute Zwecke verwendet werden.

Einerseits kann die Aufzeichnung unseres Kaufverhaltens zur Verbesserung unseres materiellen Wohlbefindens beitragen, da sie dazu führt, daß das Angebot akkurater auf unsere Bedürfnisse zugeschnitten wird. Andererseits wird dadurch für Unternehmen ein Anreiz geschaffen, Verbraucher in „Wertsegmente“ einzuteilen, um dann ihre Aufmerksamkeit auf ihre besten Kunden zu konzentrieren und die weniger ertragreichen zu vernachlässigen.

Noch heimtückischer ist der Mißbrauch, den Regierungen mit eingekauften Daten treiben können. So kaufte die US-Regierung vor kurzem personenbezogene Daten über Hunderte Millionen Einwohner lateinamerikanischer Staaten von Unternehmen wie Choicepoint und Lexisnexis. Diese Daten wurden dann von über dreißig Regierungsbehörden zur Verfolgung und in einigen Fällen Verhaftung illegaler Einwanderer genutzt.

Angesichts realer (manchmal aber auch imaginärer) Bedrohungen der nationalen Sicherheit in der Folge des 11. September 2001 kann es kaum überraschen, daß Regierungen sich technologische Neuerungen zunutze gemacht haben, um Datenbanken aufzubauen, unsere Bewegungen zu verfolgen und unser Alltagsleben bis in den letzten Winkel auszuspionieren. Selbst eine Person, die nie eine Kreditkarte benutzt, kein Mobiltelefon besitzt und weder Social Media noch Suchmaschinen verwendet, untersteht trotzdem staatlicher Überwachung – und macht sich womöglich gerade dadurch verdächtig. In den meisten Großstädten wird der Straßen- und Fußgängerverkehr mit Kameras überwacht.

Den technischen Möglichkeiten sind kaum Grenzen gesetzt. Freilich hat selbst Präsident Obama inzwischen eingestanden, daß keineswegs alles, was technisch möglich ist, deswegen auch in die Praxis umgesetzt werden muß. Eine Debatte über Nutzen und Mißbrauch der neuen Technologien durch den staatlichen wie durch den privatwirtschaftlichen Sektor – insbesondere aber durch die Zusammenarbeit zwischen beiden – ist dringend erforderlich. Tempo und Ausmaß der Fortschritte auf dem Gebiet der Datenerfassung übersteigen bei weitem unsere Fähigkeit, sämtliche Gefährdungen unserer Privatsphäre überhaupt zu verstehen, geschweige denn vernünftige Wege zu finden, mit diesen Gefährdungen umzugehen.

Foto: Angry Birds: Das Geschäftsmodell vieler Apps besteht darin, Informationen über Nutzer zu sammeln, was in diesem Fall die NSA auf den Plan rief

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