© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  07/14 / 07. Februar 2014

Nur ein Mittel zur Aggression
Der Militärhistoriker Christian Stachelbeck über das deutsche Heer und die Marine im Ersten Weltkrieg
Rolf Bürgel

Rechtzeitig zum hundertsten Jahrestag des Beginns des Ersten Weltkriegs ist nach dem fundierten Monumentalwerk des australischen Historikers Christopher Clark „Die Schlafwandler – Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog“ ein Buch erschienen, das sich vom Umfang wie vom Inhalt her deutlich von Clark unterscheidet. Sein Titel: „Deutschlands Heer und Marine im Ersten Weltkrieg“. Sein Autor, Christian Stachelbeck (Jahrgang 1967), ist Oberstleutnant und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr in Potsdam (vormals Militärgeschichtliches Forschungsamt). Wie der Titel bereits ausdrückt, gilt das Interesse des Autors nicht dem Krieg als Ganzem, sondern nur einem Teilaspekt.

Nachdem einleitend der Forschungsstand darlegt wird, folgen vier Kapitel über „Militärisches Denken und Kriegführung“, „Strukturen“, „Rüstung und Alltag, Kriegserfahrungen, Motivationen“. Das Buch vermittelt dem Leser quasi einen Blick hinter die Kulissen des deutschen Militärs im Ersten Weltkrieg. Ergänzt wird der Text durch zahlreiche Fotos, Karten, Grafiken, Tabellen, relevante Quellentexte sowie ein Quellen- und Literaturverzeichnis.

Die Darstellung ist faktengesättigt. Trotzdem findet der Geschichtskundige kaum etwas, was nicht bereits irgendwo einmal geschrieben worden ist. Der Autor erhebt zwar einen wissenschaftlichen Anspruch, wird ihm aber nicht gerecht. In seinem Duktus ist die Arbeit mehr ein Schulbuch als ein wissenschaftliches Werk, eine mehr oder minder zusammenhanglose Aneinanderreihung von Geschehnissen ohne die notwendige gedankliche Tiefe. Vor allem fehlt ein Anmerkungsapparat, der für die Wissenschaftlichkeit einer Arbeit unabdingbar ist.

Isolierte Betrachtung der Verhältnisse in Deutschland

Die Darstellung wie die vorgenommenen Interpretationen erwecken nicht selten den Eindruck, daß der Autor sich mehr der Politischen Korrektheit als der historischen Objektivität verpflichtet fühlt. Vorgänge im Deutschen Reich werden vollkommen isoliert dargestellt, ohne jeden Vergleich mit Analogien im Ausland. So entsteht zumindest teilweise ein schiefes historisches Bild der Geschehnisse wie der handelnden Personen. Ein Beispiel mag das verdeutlichen: Während der Ruf von 1914 des Generalstabschefs Helmuth von Moltke nach einem Präventivkrieg („Krieg jetzt oder nie“), den Stachelbeck als „Kriegstreiberei“ anprangert, sowohl von Kaiser Wilhelm II. wie von der politischen Führung abgeblockt wurde (Christopher Clark), haben in England und Frankreich, die militärischen Führungen ganz massiv Einfluß auf die Politik genommen und sie oft sogar präjudiziert.

Daß auch politisch von einer langfristigen Kriegsplanung Deutschlands nicht gesprochen werden kann, belegt der Autor indirekt sogar selbst, wenn er schreibt, daß „anders als etwa in Frankreich (…) in Deutschland vor dem Krieg nur rund die Hälfte der tauglichen Wehrpflichtigen eines Jahrgangs überhaupt zum aktiven Dienst in der Armee eingezogen (wurden)“. Wer, wie im Buch behauptet, den Krieg plant, beschafft sich aber beizeiten auch die erforderliche militärische Rüstung.

Auf ein wichtiges Kapitel in der deutschen Kriegführung im Ersten Weltkrieg geht der Autor überhaupt nicht ein: die fehlende Zusammenarbeit zwischen Heer und Marine, was den Krieg im Westen nicht unmaßgeblich beeinflußt hat. Wahrscheinlich hätte die französische Armee allein auf sich gestellt dem deutschen Angriff auf Dauer nicht standhalten können. Sie war auf das britische Expeditionskorps angewiesen, das aber nur über See herangeführt werden konnte. „Das Erscheinen deutscher Schiffe (… ) hätte nicht nur die Beschießung Ostendes und Zeebrügges durch die vorgeschobenen Teile der britischen Kanalflotte aufgehoben, sondern sicherlich sofort einen weitreichenden Einfluß auf die Überführung von Truppentransporten und Materialverschiffungen über den Kanal ausgeübt. Ein kühner Marsch der Hochseeflotte gegen den Kanal (von Tirpitz gefordert, vom Kaiser aber abgelehnt), während sämtliche britischen Großkampfschiffe im Atlantischen Ozean waren, würde den Zusammenbruch des gesamten linken Flügels der verbündeten Armeen in Frankreich mit sich gebracht haben“ (Paul Sethe: Die ausgebliebene Seeschlacht).

Der Obersten Heeresleitung (OHL) war dieser Gedankengang jedoch völlig fremd und scheint es dem Oberstleutnant Stachelbeck auch heute noch zu sein. Der 1918 geplante Vorstoß der Hochseeflotte in den Kanal war strategisch also durchaus sinnvoll und läßt sich nicht einfach mit „Prestige- und Ehrdenken“ der Marineführung abtun. Er kam nur vier Jahre zu spät.

Überhaupt ist das Kapitel über die Kaiserliche Marine kritisch zu betrachten. So war der Bau der „Dreadnought“ keineswegs eine Reaktion der Briten auf den deutschen Flottenbau, der zu diesem Zeitpunkt (1905) noch in den Anfängen steckte und von den Engländern keineswegs als bedrohlich angesehen wurde (Christian Wipperfürth), denn zu diesem Zeitpunkt galten Frankreich und Rußland als die Hauptgegner zur See. Die „Dreadnought“ war nicht einmal eine rein britische Erfindung. Die US-Navy hatte schon vor den Briten mit dem Bau eines „Ein-Kanonen-Schiffes“ begonnen, das aber erst nach der britischen „Dreadnought“ fertig wurde.

Die Fernblockade war in England keineswegs unumstritten. Sir John Fisher hatte die Marine durchaus im Geiste Nelsons zur Offensive erzogen. In der politischen wie militärischen Führung kam es während des gesamten Krieges immer wieder zu heftigen Auseinandersetzungen über die strategische Zielsetzung der Seekriegführung. So gab es schon seit 1912 britisch-russische Pläne für die Landung einer russischen Armee an der pommerschen Küste unter dem Schutz der britischen Flotte, die aber an der deutschen Flotte scheiterten. Das zeigt, daß Tirpitz Erwartungen vom offensiven Vorgehen der britischen Flotte durchaus nicht unbegründet waren!

Das größte Manko der Arbeit jedoch besteht darin, daß der Autor die damaligen Geschehnisse und ihre Protagonisten nach heute geltenden Maßstäben beurteilt, was nur als unhistorisch bezeichnet werden kann. Dazu der britische Historiker James Joll: „Um die Menschen des Jahres 1914 zu verstehen, müssen wir erst die Werte des Jahres 1914 verstehen; an diesen Werten schließlich müssen ihre Handlungen gemessen werden.“ Daß sich Christian Stachelbeck daran nicht gehalten hat, relativiert den Wert seines – durchaus als wackere Fleißarbeit anzuerkennen – Buches doch erheblich.

Christian Stachelbeck: Deutschlands Heer und Marine im Ersten Weltkrieg. Oldenbourg Verlag, München 2013, broschiert, 224 Seiten, Abbildungen, 19,80 Euro

Foto: Kaiser Wilhelm II. nimmt eine Parade auf dem Tempelhofer Feld ab, um 1900: Nur die Hälfte der tauglichen Wehrpflichtigen eingezogen

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