© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  07/14 / 07. Februar 2014

Beliebte Klischees zurechtgerückt
Herfried Münklers Buch über den Ersten Weltkrieg offenbart einen Paradigmenwechsel
Peter Michael Seidel

Das ‘Reich der Mitte’ ist durch die Globalisierung der Wirtschaft in eine geostrategisch unkomfortable Lage geraten. (…) Das ‘Reich der Mitte’ steht in der Gefahr, ganz buchstäblich in die Mitte genommen und eingekreist zu werden. (China müsse bestrebt sein), die Fehler, die Deutschland zu Beginn des 20. Jahrhunderts gemacht hat, zu vermeiden – allerdings nicht in dem Sinne, daß es den ‘Griff nach der Weltmacht’ überhaupt nicht anstrebte, sondern um ihn geschickter und umsichtiger vorzunehmen.“

Es mag verwundern, wenn eine Rezension von Herfried Münklers neuem Buch über den Ersten Weltkrieg mit China beginnt. Und doch sind es die Ausführungen über das China von heute, denen Herfried Münkler am Ende ein eigenes Unterkapitel einräumt, das die aktuelle Brisanz des Buches im historischen Kontext exemplarisch verdeutlicht. Der Verweis auf China ist auch deshalb richtig, weil es sich beim Ausbruch des Ersten Weltkrieges, so Münkler, um „ein Lehrstück der Politik“ handle. Kennedy war sich dieser Tatsache während der Kubakrise 1961 nur zu bewußt, er fürchtete die mögliche Eskalation.

Bisherige bundesdeutsche Einseitigkeiten aufgegeben

Die im Klappentext angekündigten „zahlreichen Neubewertungen“ bei der Analyse des Ersten Weltkrieges gibt das Buch in der Tat, auch wenn sie dem Leser englischer Gesamtdarstellungen zum Thema nicht fremd erscheinen. Dies liegt weniger daran, daß bisherige bundesdeutsche Einseitigkeiten aufgegeben und die englische Forschung stärker berücksichtigt wurde, sondern daran, daß hier ein bewährter politikwissenschaftlicher Ansatz benutzt wird, mit dem „Konfliktabläufe untersucht und die Folgen gefährlicher Bündniskonstellationen analysiert“ werden. Insgesamt führt dies dazu, daß politisch-historische Einseitigkeiten und beliebte Klischees zurechtgerückt werden.

Spannend sind vor allem das Kapitel über „die langen und kurzen Wege in den Krieg“, also die Vorgeschichte des „Großen Krieges“ mit ihren Friktionen und Irrationalitäten, die Ausführungen über den „Ersten Weltkrieg als politische Herausforderung“, aber auch die Geschehnisse auf österreichisch-ungarischer Seite und der Seekrieg, die bei Münkler ausführlicher als in vergleichbaren Darstellungen ausfallen. Knapper fällt hingegen die Vorstellung der Bemühungen um Frieden während des Krieges aus.

Der beliebten „Opferperspektive“ wird kaum Raum gegeben, vielmehr werden die militärischen Ereignisse des Krieges komprimiert und klar geschildert. Dies gilt sowohl für die West- wie die Ost- und Südfront, die Entwicklungen im Nahen Osten und Afrika. Interessant sind die Ausführungen über politischen Realitätsverlust insbesondere in Deutschland und dessen politisches Versagen gerade auch aufgrund überragender militärischer Leistungen. Bezeichnend dabei die Bemerkungen Münklers über die kontraproduktive Rolle der deutschen Intellektuellen während des Krieges, die „ohne spezifische Expertise und rein wertorientiert argumentierten“. Kleinere, seltene Fehler wie der, daß aus einem Kleinen Kreuzer ein Panzerkreuzer wird, hätten dem Lektor auffallen sollen.

Auch die Rolle der USA vor ihrem Kriegseintritt hätte eine größere Beachtung verdient. Wie schon Winston Churchill 1936 erklärte, wäre es ohne die finanzielle Unterstützung der Entente durch die Amerikaner seit 1914 vermutlich aufgrund des militärischen Patts 1916 zu einem Erschöpfungsfrieden gekommen und Europa damit sowohl die NS-Diktatur Hitlers wie die kommunistische Diktatur Lenins und Stalins erspart geblieben. Das Eingreifen der USA rettete die Alliierten vor dem Bankrott. De facto war es die Intervention eines Landes, das einst selbst mit seiner Monroe-Doktrin das Interventionsverbot für raumfremde Mächte als Maßstab forderte und dieses auch fast ein Jahrhundert lang durchsetzte.

Die zum Teil aus der alten Welt stammende realistische Schule der amerikanischen Politikwissenschaft ist in Deutschland nicht beliebt, erinnert sie doch an alte geopolitische Realitäten. Es ist deshalb das große Verdienst Münklers, diese realistische Schule zum theoretischen Fundament seiner Geschichts- und Krisenbetrachtung und damit im besten Sinne „realistischer“ gemacht zu haben. Im Zentrum steht dabei erneut „die geopolitische Lage Deutschlands in der Mitte des Kontinents“.

Dies führt dann fast zwangsläufig auch zur Auseinandersetzung mit der alten bundesrepublikanischen Schule um Kehr, Fischer, Berghahn oder Wehler, „die den Deutschen die Hauptschuld am Krieg anlasteten, um einiges radikaler als die offizielle DDR-Historiographie“, und reicht von deren binnenpolitischen Thesen zum Kriegsausbruch bis zum Flottenbau und zur Kriegszieldiskussion. Führt doch Münklers Anwendung realistischer politikwissenschaftlicher Fragestellungen auf internationale historische Krisensituationen auch zur lange Zeit sakrosankten und hier erneuerten Zurückweisung der These, Deutschland sei der Hauptverantwortliche am Ausbruch des Ersten Weltkriegs gewesen – mit überzeugenden Belegen.

Herausforderungen aus der Zeit vor 1914 auch heute

Münklers Buch ist aufregend, ein Meilenstein der Diskussion gerade in Deutschland – vielleicht sogar ein Paradigmenwechsel und Neuanfang. In jedem Fall setzt es neue Maßstäbe. Allerdings dürfte es auf den Widerstand eines Milieus stoßen, das nicht nur wie ein ehemaliger deutscher Außenminister Joschka Fischer bis heute der Meinung ist, Deutschland sei in Versailles nicht hart genug dafür bestraft worden, den Ersten Weltkrieg „vom Zaun gebrochen zu haben“. Dabei ist das richtige außenpolitische Bewußtsein für diese Phase der Geschichte eminent wichtig, da „Deutschland nach 1990 wieder zu einer Großmacht in der Mitte Europas aufgestiegen ist und sich viele der Herausforderungen aus der Zeit vor 1914 erneut stellen – (…) auch wenn diese heute nicht mehr militärstrategischer, sondern vor allem ökonomischer Art sind“, wie Münkler zu Recht betont.

Spätestens bei den Gedenkveranstaltungen im Sommer 2014, an denen die früheren Kriegsgegner an den Ausbruch der „Urkatastrophe“ erinnern werden, wird sich zeigen, ob sich durch Münklers famoses Buch in der öffentlichen Diskussion etwas ändert oder die deutschen Politiker die so liebgewonnene Haltung einnehmen werden, sich für die Rolle des historischen Bösewichts ihres Heimatlandes in Richtung London, Paris, Moskau oder gar Belgrad zu entschuldigen.

Herfried Münkler: Der Große Krieg.Die Welt 1914–1918. Rowohlt Verlag, Berlin 2013, gebunden, 928 Seiten, Abbildungen, 29,95 Euro

Foto: Amerikanische Truppen rücken im Juli 1918 gegen die deutsche Westfront vor: Das Eingreifen der USA rettete die Alliierten vor dem Bankrott

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