© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  06/14 / 31. Januar 2014

Marktwirtschaft unter Rechtfertigungsdruck
Freiheit ist das beste Mittel
Erich Dauenhauer

Es ist eines der erstaunlichsten Phänomene unserer Zeit, daß es dem Parteienstaat gelingt, die zunehmenden Freiheitseinschränkungen als Fortschritt erscheinen zu lassen. Noch erstaunlicher ist, daß die überwiegende Mehrheit der Bürger nicht durchschaut, warum ein Übermaß an Freiheitseinschränkungen früher oder später zu Wohlstandsverlusten führen muß. Die Geschichte ist dafür ein unbestechlicher Lehrmeister.

Am erstaunlichsten ist freilich, daß dieser Prozeß, der die rechtsstaatlichen und sozialen Fundamente einer freiheitlichen Gesellschaft berührt, sich aktuell auf eine hohe Autorität berufen kann, nämlich auf das jüngste Lehrschreiben des Papstes mit dem Titel „Evangelii Gaudium“ („Die Freude des Evangeliums“). Papst Franziskus wendet sich an alle Bischöfe, Priester und Laien, damit sie das „Evangelium in der Welt von heute“ verkündigen. Gerade dieser Tage erinnerte der Papst wieder an sein Apostolisches Schreiben, als er an die versammelte Wirtschaftselite der Welt in Davos appellierte, sich stärker für eine gerechtere Verteilung des Wohlstands auf der Welt einzusetzen.

In dem Papstschreiben kommt ein Wirtschaftsverständnis zum Ausdruck, dem auch kirchentreue Christen kaum zustimmen können. Unternehmer und Wissenschaftler schauen verwundert auf das Bild, das Franziskus von der (Markt-)Wirtschaft zeichnet.

Es lohnt sich, die beiden Grundlagenpapiere für die einleitend beschriebene Lage, den Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD und das Papstschreiben vergleichend zu betrachten, erstens weil beide Texte im Staatstrend liegen, und zweitens weil von beiden Erklärungen eine politische und religiöse Leitfunktion ausgeht. Natürlich hat Papst Franziskus sein Apostolisches Schreiben nicht mit Blick auf die innenpolitischen Verhältnisse Deutschlands verfaßt, aber gerade dieser Umstand belegt ungewollt einen gewissen Gleichklang der Auffassungen über wirtschaftliche Zusammenhänge.

Das Menschen- und Gesellschaftsbild im Koalitionsvertrag und das darin erkennbare Verhältnis zwischen Bürger und Staat wurden öffentlich ausführlich erörtert. Kein Zweifel: Die Bundesregierung wird die Entscheidungsgewichte deutlich in Richtung Staat verschieben. Sie schwächt damit die Selbstverantwortung und Freiheit des Bürgers. Die Belege dafür sind zahlreich: Eingriff in die Tarifautonomie (Mindestlohn), in das Mietvertragsrecht, in die Rentenkasse und damit in die spätere Alterssicherung, in das identitätsstiftende Staatsbürgerschaftsrecht, in die ärztliche Versorgung, in die sichere Energieversorgung usw. Ohne Not und Weitsicht greift der Parteienstaat in zahlreiche bürgerliche Lebensfelder tief regulierend ein, was mit individuellen Freiheitsverlusten erkauft wird.

An das staatliche „Fürsorgemodell“ haben sich die Wähler schon so sehr gewöhnt, daß sie die Schattenseiten geringschätzen und die Wohlstandsverluste übersehen. Der Koalitionsvertrag beschönigt und überdeckt die Einschränkungen mit wohlfeilen Formulierungen und Leerformeln („Wir wollen die Soziale Marktwirtschaft stärken ...“). Ständig spricht ein mächtiges Parteien-Wir: „Wir wollen ..., wir wollen.“ In der umfangreichen Präambel ist vom Bürger nur in einem einzigen Abschnitt die Rede. Ansonsten hat man ihn, den Citoyen und Verfassungssouverän, aus dem Blick verloren und spricht statt dessen dutzendfach vom „Menschen“, als handle es sich um eine bloß biologische Spezies, die man händchenhaltend versorgen müsse. Der aktuelle politische Leittext für Deutschland atmet jedenfalls nicht die Aura des souveränen Citoyens.

In dem genannten Papstschreiben kommt ein Wirtschaftsverständnis zum Ausdruck, dem auch kirchentreue Christen, sofern sie ökonomisch aufgeklärt sind, kaum zustimmen können. Unternehmer und Wissenschaftler, die der katholischen Soziallehre viel abgewinnen können, schauen verwundert auf das Bild, das Franziskus von der (Markt-)Wirtschaft zeichnet, die er mit dem Verdikt belegt: „Diese Wirtschaft tötet“ (Ziffer 52). Dem Papst selber müssen Zweifel gekommen sein, sonst hätte er nicht in Ziffer 184 zugestanden, daß „weder der Papst noch die Kirche das Monopol für die Interpretation der sozialen Wirklichkeit“ besitze. Er lädt zur Diskussion ein und setzt damit das offene Amtsverständnis seines Vorgängers Benedikt XVI. fort. Wenn er aber versichert: „Dies ist kein Dokument über soziale Fragen“, so stehen dem zahlreiche einschlägige Beschreibungen der wirtschaftlich-sozialen Verhältnisse entgegen. Daneben fallen auch deutliche Worte über das „Systemische“ allen Wirtschaftens.

Die Verhältnisbeschreibungen markieren schonungslos das Skandalon kalter Marktgesinnung. Mit ihr geht der Papst zu Recht scharf ins Gericht. Er spricht vom „Schrei der Armen“, vom Elend der Ausgeschlossenen und macht eine „tiefe anthropologische Krise“ dafür verantwortlich. Zwar seien „die Erfolge, die zum Wohl der Menschen beitragen“, lobenswert. „Wir dürfen jedoch nicht vergessen, daß der größte Teil der Männer und Frauen unserer Zeit“ in „Angst und Verzweiflung“ lebten, „sogar in den sogenannten reichen Ländern“. „Die soziale Ungleichheit tritt immer klarer zutage.“ Franziskus schreckt vor drastischen Bildern nicht zurück und versichert, er schreibe „mit Liebe und bester Absicht (...), weit entfernt von jedem persönlichen Interesse oder einer politischen Ideologie“.

Dutzende Briefstellen lesen sich jedoch eindeutig als Grobzeichnung einer politischen Weltanschauung (Ideologie). Der Papst legt an die Übel der Globalisierung biblische und lehramtliche Maßstäbe an, das heißt, er wird systemisch. Das Schreiben steht unter dem Motto, „die Kultur zu evangelisieren, um das Evangelium zu inkulturieren“. Diese Perspektive erzwingt neben Übelbeschreibungen auch eine Systembeschreibung, die daran zweifeln läßt, ob Franziskus und seine Berater die Kategorien (nicht die Übel) des nun mal weltlichen Wirtschaftslebens richtig sehen. Eindeutig sind die Briefstellen, die eine Zuteilungswirtschaft favorisieren. Franziskus wünscht sich nicht nur eine „arme Kirche“, sondern auch eine Gemeinwirtschaft jenseits der Marktwirtschaft.

Freie Märkte lehnt er erkennbar ab, ebenso „ein undifferenziertes, naives Vertrauen auf die Güte derer (...), die die wirtschaftliche Macht in Händen halten“. Dafür macht er „die sakrali-sierten Mechanismen des herrschenden Wirtschaftssystems“ verantwortlich. Er schreibt, „in dem geltenden ‘privatrechtlichen’ Erfolgsmodell scheint es wenig sinnvoll zu investieren, damit diejenigen, die auf der Strecke geblieben sind, die Schwachen oder die weniger Begabten, es im Leben zu etwas bringen können“. Er meint, die „Kultur des Wohlstandes betäubt“, und stellt somit das herrschende Wirtschaftsmodell zur Debatte.

Im franziskanischen Wirtschaftsdenken kommen Unternehmer und Privateigentum zwar noch vor, aber nur in dominanter Ausrichtung auf die Armen, Schwachen und auf das Gemeinwohl. Dadurch hofft der Papst, „den schweren Mangel an einer anthropologischen Orientierung“ beheben zu können. Gott erwarte eine „verbindliche Antwort (...), die außerhalb der Kategorien des Marktes steht“. Dazu sei auch ein „energischer Wechsel der Grundeinstellung der politischen Führungskräfte“ erforderlich. Letztlich kristallisiere sich „in den ungerechten Gesellschaftsstrukturen“ von heute das „Böse“ als Grund dafür heraus, „warum man sich keine bessere Zukunft erwarten kann“.

Fügt man diese und weitere Aussagen zu einem Bild zusammen, zeichnet sich ein ökonomisches Weltbild ab, das in den Medien und unter Ökonomen überwiegend auf Ablehnung stößt, erst recht bei Unternehmern, die ihre Arbeit in Wettbewerbsmärkten herabgesetzt sehen. Der Papst wolle nicht nur die Kirche „radikal verändern“, hieß es in der Neuen Zürcher Zeitung, er übe auch „scharfe Kritik“ am „gegenwärtigen Wirtschaftssystem (...), da es vom Gesetz des Stärkeren geleitet sei“ (1. Dezember 2013). Daher, so das allgemeine Presseurteil, betreffe seine „Regierungserklärung“ (NZZ) nicht allein Katholiken, sondern gleichermaßen Gläubige, Atheisten und Agnostiker, also alle Bürger.

Vermutlich hat diese allgemeingesellschaftliche Betroffenheit Reinhard Kardinal Marx (München) in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung zu einer Interpretation veranlaßt, die, legt man das Papstschreiben daneben, die Sache eher verschlimmert als rettet. Zu alledem schweigen führende Unions- und SPD-Politiker. Vermutlich nicht, weil ihnen die radikale Systemkritik sympathisch wäre, wohl aber ist es die erwünschte zunehmende Staatskontrolle, die ihnen zupaß kommt. Es wäre daher ein schwerer Fehler, das ökonomische Franziskus-Modell einfach als inkompetent zu ignorieren. Dagegen spricht allein schon seine weltweite Wirkung. Es ist zwar kein Dogma, aber an seiner Verbindlichkeit läßt der Papst mit ausführlich zitierten biblischen Gründen keinen Zweifel (Ziffer 191ff). „Die Sonderoption für die Armen“ habe alles kirchliche und weltliche Handeln zu bestimmen, weshalb die „strukturellen Ursachen“ für die Fehlentwicklungen an den „Wurzeln“ zu packen seien.

Transformationen jenseits dirigistischen und radikalkapitalistischen Wirtschaftens sind möglich und notwendig. Der ersten Version fehlt es an Wissen, der zweiten an Moral. Aufgerufen ist der Staat als strenger Rahmengeber, jedoch nicht als Planungskommandeur.

Franziskus sieht die Lösung in einer „angemessene(n) Verwaltung des gemeinsamen Hauses“, worunter er ersichtlich gemeinwirtschaftliche Wirtschaftsformen im Geiste biblischer Brüderlichkeit versteht. „Warum komplizieren, was so einfach ist?“ fragt Franziskus, aber gerade darin zeigt sich die Problematik: Seine Wirtschaftsvorstellungen übersehen, daß freie, faire und offene Märkte die Weltarmut weit stärker verringern als dirigistische Mechanismen. Daneben gibt es weitere, historisch gut belegte und empirisch erhärtete Einwände, die hier nur angedeutet werden können. So hat der Papst keinen Blick für Evolutionsökonomien jenseits von Gemeinwirtschaften und auch jenseits des radikalkapitalistischen Globalisierungsbetriebes.

Alles Wirtschaften kann man als einen evolutionsökonomischen Prozeß verstehen, der bei sanktionierender Rahmensetzung durch den Staat dann „Wohlstand für alle“ (Ludwig Erhard) zeitigt, wenn Freiheitsgrade individuell anspornen. Genau dann kommt es zu „Wirtschaftswundern“ mittels fairer und offener Märkte. Darin und nicht in einem gutgemeinten zentralistischen Durchgreifen liegt jene ökonomische Potenz, die einer sozialen Gerechtigkeit zuarbeitet und Armut verringert. Dafür gibt es in Geschichte und Gegenwart zahlreiche Länderbeispiele (historisch: Nachkriegsdeutschland; aktuell: Litauen).

Der Papst aber verkennt solche überzeitlichen Prozeßmuster, die in allem Wirtschaftsleben stecken und die stets eine häßliche und eine ethische Seite haben und die unter lebensweltlicher Bürgerperspektive immer nur auf eine Mängelminimierung hinauslaufen können. Korruption oder armutsverachtender Luxus kommen in allen Wirtschaftsformen vor, die wirtschaftende Kirche selber war und ist nicht frei davon. Das liegt in der Conditio humana begründet, die das Christentum bisher nicht wesentlich aufbessern konnte.

Dennoch sind Transformationen jenseits dirigistischen und radikalkapitalistischen Wirtschaftens möglich und notwendig. Der ersten Version fehlt es an Wissen, der zweiten an Moral. Aufgerufen ist der Staat als strenger Rahmengeber, nicht als Planungskommandeur. Franziskus will seine Kirche dezentralisieren: ein Muster, das zur Marktwirtschaft paßt. Warum hier nicht weiterdenken? Das wäre auch den Großkoalitionären in ihrem ersten Regierungsjahr zu empfehlen.

 

Prof. Dr. Erich Dauenhauer, Jahrgang 1935, war von 1971 bis 2003 Lehrstuhl­inhaber für Wirtschaftswissenschaft und Wirtschaftspädagogik an der Universität in Landau/Pfalz. Er lehrt dort weiterhin als Emeritus im Rahmen des Studium generale. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über das duale Berufsbildungssystem („Der Grund des Wohlstands“, JF 43/13).

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