© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  06/14 / 31. Januar 2014

GegenAufklärung
Kolumne
Karlheinz Weissmann

Wenn Michael Klonovsky die neue „Viererbande“ – die Publizistin Cora Stephan und die Historiker Dominik Geppert, Sönke Neitzel und Thomas Weber – bei dem Versuch unterstützt, die deutsche Sicht auf den Ersten Weltkrieg zu korrigieren, ist das aller Ehren wert. Es gibt keinen Grund, seiner Argumentation im Grundsätzlichen zu widersprechen, nur in einem wichtigen Detail. Klonovskys Behauptung, „1914 hätte kaum ein Mensch den Begriff Kriegsschuld verstanden; er entstand erst durch die Millionen Opfer der Materialschlachten“ trifft nicht zu. Paris und St. Petersburg rechtfertigten ihr eigenes Vorgehen von Anfang an unter Hinweis auf die deutsche Kriegsschuld: mit der Behauptung einer systematischen Unterwanderung Frankreichs (etwa durch die schweizerische Firma Maggi, die in Wirklichkeit Teil eines deutschen Spionagerings sei), mit gefälschten Zahlen zur deutschen Kampfstärke und der Lüge, es habe eine heimliche Generalmobilmachung deutscher Truppen stattgefunden, auf die die russische lediglich antwortete. Dasselbe galt für London, wo schon vor dem deutschen „Überfall“ auf „poor Belgium“ die Anschauung verbreitet war, in deutschen Offiziersmessen würde regelmäßig auf „the day“ – „den Tag“ der Abrechnung mit dem „perfiden Albion“ getrunken und es gebe ein „deutsches Programm“ zum Zweck der Welteroberung.

Arzt: „Die Symptome sind etwas uneindeutig.“ Patient: „Hm.“ Arzt: „Vielleicht was Psychosomatisches.“ Patient: „Hm.“ Arzt: „Und, gibt es Dinge, die Ihnen seelisch zu schaffen machen? Ehe? Familie? Beruf? Geld?“ Patient: „Der Untergang des Abendlandes.“

Menschen, denen niemand widerspricht, sind ein Problem. Ihre Vorstellungen verfestigen sich in einem ungesunden Maß. Das gilt auch für Altkanzler Helmut Schmidt, der seine Einsichten nur noch ex cathedra verkündet, umgeben von einer schweigend staunenden Schar. Zuletzt erfuhr man aus seinem Munde, daß es anmaßend sei, die „europäische Erfindung“ der Menschenrechte aller Welt aufzunötigen, weiter, daß es keinesfalls angehe, sie den konkreten wirtschaftlichen und militärischen Interessen vorzuordnen, und dann auch noch, daß er selbstverständlich für die Geltung der Menschenrechte in Deutschland „auf die Barrikaden“ gehen würde. Kurz und knapp: Die Menschenrechte sind eigentlich keine, sondern Deutschenrechte oder äußerstenfalls Rechte von Menschen, die das Glück haben, auf deutschem Hoheitsgebiet zu leben, ansonsten handelt es sich um Absichtserklärungen oder weniger als das. Im Prinzip kein Einwand. Aber muß man derlei im Ton des keinen Widerspruch duldenden Weisen aussprechen? Waren wir so weit nicht schon vor hundert Jahren, und auch vor achtzig? Bloß später nicht mehr, aus je verschiedenen Gründen.

An der neuen Bundeswehr-Dienstvorschrift zur Gestaltung von „Körpermodifikationen“ interessiert eigentlich nur, ob die Hinweise zum Gebrauch von Lippenstift, Wimperntusche und Lidschatten in natürlicher Anmutung ausschließlich für Soldatinnen gelten, oder auch für modebewußte Soldaten.

Nach jeder Begegnung mit kirchlichem Personal, die Notwendigkeit, sich zu vergewissern: Nein, der Herr hat nie an einem Selbsterfahrungs-Workshop teilgenommen, nein, keine Spur von Sprachkitsch, keine Sentimentalität im Neuen Testament, nirgends.

Bildungsbericht in loser Folge L: Heike Schmoll hat den neuen „Bildungsplan“ der baden-württembergischen Landesregierung zu Recht als „Gesinnungslehrplan“ bezeichnet. Allerdings wäre es falsch, die Absichten der grün-roten Konzeption zu isolieren. Sie gehören in einen größeren Zusammenhang, jenes von einem Allparteienbündnis getragene Konzept, das auf Entkernung des Unterrichts mittels Kompetenz-Orientierung, Ausrichtung der Restinhalte an den Regeln politischer Korrektheit, Senkung der Leistungsstandards und Abbau der wissenschaftlichen Fundierung des Lehramtsstudiums beruht. Neu ist die Entwicklung also nicht, neu ist nur, daß es in Baden-Württemberg Widerstand dagegen gibt.

Welche tiefere Ursache das Beharren der Alliierten auf der deutschen Alleinkriegsschuld hatte, erläuterte der US-amerikanische Politikwissenschaftler und Kommunikationstheoretiker Harold Lasswell schon in den 1920er Jahren unter Verweis auf einen Wesenszug jeder Massengesellschaft: „Es darf keinen Zweifel daran geben, wen das Publikum zu hassen hat. Den Krieg darf nicht ein Weltsystem ausschlaggebender internationaler Beziehungen verschulden, noch die Dummheit oder das Übelwollen aller regierenden Klassen, sondern die Raubgier des Feindes. Schuld und Schuldlosigkeit müssen geographisch verortet sein, und alle Schuld muß auf der anderen Seite der Grenze liegen.“

Die nächste „Gegenaufklärung“ des Historikers Karlheinz Weißmann erscheint am 14. Februar in der JF-Ausgabe 8/14.

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