© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  06/14 / 31. Januar 2014

Orest! Orest!
Bühnenzauber aus der Kraft der Musik: Im Richard-Strauss-Jahr läßt die Staatskapelle Dresden unter Christian Thielemann und Evelyn Herlitzius in der Titelpartie „Elektra“ an der Semperoper geschehen
Sebastian Hennig

Während des Empfangs im Anschluß an die Premiere von Richard Strauss’ „Elektra“ betonte Christian Thielemann, daß Tradition keinen unangefochtenen Bestand darstellt, sondern stets aufs neue errungen werden muß. Das liegt in der biologischen Tatsache begründet, daß die bereits Kundigen älter werden und nach und nach abtreten müssen. Wer nun nachrückt, muß überhaupt erst einmal kennenlernen, um lieben zu können. Die Kenntnis selbst muß erlernt werden. Das gelingt am wirkungsvollsten, wenn man einfach geschehen läßt und nicht erklärt. Das Wahre klärt sich von selbst.

Diesem Anspruch wurde der Abend in der Semper-oper in besonderer Weise gerecht. Das Erlebnis der Werke von Wagner, Pfitzner und Bruckner unter Thielemanns Führung ist zuverlässig ein beeindruckendes Geschehen. Wie er aber die Sinfonien und Konzerte von Johannes Brahms wiedererstehen läßt oder nun die „Elektra“ von Richard Strauss anläßlich dessen 150. Geburtstag, das erweckt den Eindruck einer Uraufführung.

Die tatsächliche Uraufführung im Januar 1909 in Dresden wurde in der schönheitsverliebten Residenzstadt an der Elbe nicht nur bejubelt, sondern auch als „kakophoner Krach“ bezeichnet. Über solche Schocker, wenn sie überhaupt Lebenskraft haben, streift sich während der Jahrzehnte Hülle um Hülle der Konvention. In Dresden wurden die alle abgefetzt, und die ursprüngliche Macht des Werks trat hervor.

Strauss-Biograph Ernst Krause schreibt über „Elektra“: „Strauss hat das flackernde Helldunkel der blutig roten Klangfarben und die rhythmisch-harmonischen Akzente des vielgliedrigen Orchesters nie wieder mit solch erschreckender Offenheit der Gefühle betont. Strauss hat sie in keinem seiner Werke deutlicher werden lassen. Im übrigen haben sich unsere Ohren längst an jene grellen Details des tönenden Pandämoniums, die nach Straussens eigenen Worten ‘über alle Musik hinausgehen’, gewöhnt. Viel kritischer sind wir heute gegenüber jenen Partien im Umkreis der Chrysothemis und auch Elektras, die auch bei so hartem Objekt nicht von einem Wohlklang typisch Straussscher Art loskommen.“

Seine erste Oper in Dresden dirigierte Christian Thielemann (JF 27/13) im November 2012 mit „Der Rosenkavalier“. Die Staatskapelle zelebrierte diesen Neo-Rokoko mit berückendem Schmelz, so wie sie nun „Elektra“ mit aischylosker Rauheit hervorpreßt. Das ist ein bösartiges, häßliches Getöse. Unschön und ruppig schießt es aus dem Graben empor, nur von kurzen Augenblicken der Hoffnung durchlichtet. Der Palast von Mykene ist die Kopie eines nie fertiggestellten Bankettsaals im Flughafengebäude von Tempelhof. In der Mitte der hölzernen Wandverkleidung prangt höhnisch die Devise „Justitia Fundamentum Regnorum“.

Die Regisseurin Barbara Frey hat bislang nur Erfahrungen mit dem Schauspiel. Aber auch das ist eine besondere Pointe. Hatte doch Richard Strauss sein stiftendes Erlebnis durch eine Berliner Theateraufführung von Hugo von Hofmannsthals Drama mit Gertrud Eysoldt in der Titelrolle. Als er seinem Dresdner Sachwalter, dem Hofkapellmeister Ernst Edler von Schuch, die fertige Partitur übergeben hat, wartet er voller Ungeduld auf den Klang seines Werks. Es kam zu Differenzen über den Orchesterklang, die der Komponist rückblickend beschreibt: „Schuch war berühmt wegen seiner eleganten Aufführungen italienischer und französischer Opern. Er hatte diese löbliche Tugend so weit gesteigert, daß selbst Wagnersche Partituren etwas unbedeutend klangen. Ein richtiges Blechfortissimo war in dem klangschönen Dresdner Musterorchester kaum zu hören. Da ich damals noch für germanische Fortissimi schwärmte, nörgelte ich in den Proben törichterweise an Schuchs wohlklingendem (nicht dröhnenden) Blech herum, was ihn ärgerte.“

In Dresden wurde nun sowohl dem zur „Elektra“-Uraufführung 45jährigen Komponisten gewillfahrtet als auch das Musterorchester bedient. Das Ergebnis ist von markerschütternder Wirkung. Anstatt einer Ouvertüre brüllt das Orchester mit einer Stimme den Namen des gemeuchelten Königs hervor: Agamemnon.

Eindrücklich ist schon die erste heftige Auseinandersetzung: Gegen die Hatz der Peergroup aus vier Mägden stellt sich als fünfte Nadja Mchantaf in entrückter Liebe zur gedemütigten Elektra. Die großen Auseinandersetzungen der Elektra (Evelyn Herlitzius) mit ihrer Schwester Chrysothemis (Anne Schwanewilms) und ihrer Mutter Klytämnestra (Waltraud Meier) und wie Elektra nach dem Erkennen ihres Bruders auch in der Gestalt schön wird, als ein Königskind und nicht länger wie ein gehetztes Tier erscheint – das ist reinster Bühnenzauber aus der Kraft der Musik.

René Papes entschiedene Traurigkeit wirkt zwingender selbst als jener pathos-bebende Orest von Fischer-Dieskau in der Aufnahme der Staatskapelle unter Karl Böhm. Der endlos erscheinenden Qual folgt endlich Genugtuung in vollem Umfang.

Strauss und Hofmannsthal haben lange um die Gestalt des Aegisth gerungen. Schließlich hat der Komponist entschieden: „Er gehört unbedingt mit zur Handlung und muß mit erschlagen werden, womöglich vor den Augen des Publikums.“ Wie er von Orest und dem Pfleger (Peter Lobert) auf dem Balkon zurück ins Dunkle gezerrt wird, ist der Begriff der Hinrichtung gegeben als einzige Sühne für den Mord. So gibt es keine Bewegung, die nicht durch die musikalische Dramatik gerechtfertigt wäre.

Als in der letzten Szene Chrysothemis der Schwester Elektra jubelnd zuruft: „Elektra! Schwester! Komm mit uns!“ lösen sich die „Orest“-Rufe des Chores vom obersten Rang des Opernhauses und stürzen als Kaskade hinab zur Bühne. Evelyn Herlitzius singt und lebt die Worte: „Ob ich die Musik nicht höre? Sie kommt doch aus mir.“ Mit den letzten Tönen schleppt sie sich von der Bühne weg, deren Fassade ganz von der frivolen Sprache des Machtmißbrauchs gezeichnet ist, an den Rand des Orchestergrabens, wo sie zusammenbricht. Es ist nicht mehr das sprachlose klanggewaltige Orchester, das den toten König anruft, sondern Elektra, die mit dem Namen seines siegreichen Sohnes ihr Leben ausstößt: „Orest! Orest!“

Die nächsten „Elektra“-Vorstellungen in der Semperoper Dresden, Theaterplatz 2, finden am 31. Januar (ausverkauft) sowie am 22. und 29. Juni statt. Kartentelefon: 0351 / 49 11 705, E-Post: bestellung@semperoper.de

www.semperoper.de

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