© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  06/14 / 31. Januar 2014

Pankraz,
die Mutti und das Geschenk des Karma

Was wollen Sie denn“, sprach ein indischer Kollege zu Pankraz, der – in einem Gespräch über Max Weber und dessen Theorie der Herrschaftsformen – über das „mangelnde Charisma“ der gegenwärtigen deutschen Bundeskanzlerin räsonierte, „Ihre Kanzlerin hat etwas viel Wichtigeres und Umfassenderes als Charisma, sie hat ein gutes Karma.“ Das war ein ziemlicher Hammer, der Pankraz fürs erste sprachlos machte.

Karma statt Charisma? Charisma ist, nach der Auffassung von Weber, eine Herrschaftsform, die über die üblichen „bürokratischen“, teils traditionalen, teils rationalen Formen von Herrschaft hinausreicht. Der Herrschende wirkt da nicht (nur) mehr als Vollzugsorgan vorhandener Gesetze und systembedingter Vorgaben, sondern (auch und in erster Linie) als genuiner Schöpfer und originärer Gestalter von Politik. Von ihm geht eine schier dämonische, nicht auf den Begriff zu bringende Faszination aus, welche die Menschen mitreißt.

Charismatische Politiker kommen nicht nur in autoritären Systemen vor, sondern auch und gerade in Demokratien, wo sie die Massen bewegen und unter Umständen zu großen Taten führen. Daß die Kanzlerin Angela Merkel („Mutti“) keine Charismatikerin ist, gilt mittlerweile als ausgemacht. Einige Beobachter bescheinigen ihr sogar „Entscheidungsschwäche“, ein blindes Vertrauen in den Selbstlauf des jeweiligen Systems, das jedes Charisma von vornherein unmöglich macht.

Ihre sichtbare Vorliebe dafür, die ihr zugeordneten Paladine bei anstehenden Entscheidungen erst einmal reden zu lassen, womöglich gar solange zu warten, bis sich das babylonische Stimmengewirr zu einer festen Meinungstendenz geordnet hat, der man dann nur noch seinen Segen zu geben braucht – all das scheint den Befund voll zu bestätigen. Eine Kanzlerin ist doch keine Richterin, heißt es denn auch schon vielerorts mit kritischem Unterton, sie gehört der Exekutive an, die durch Gesetze und Richtersprüche ohnehin genügend eingeschränkt ist. Weshalb sich dann selber noch einmal Beschränkungen auferlegen?

Auch auf die neue Macht der elektronischen Medien wird in diesem Zusammenhang verwiesen, welche die Situation gründlich verändert habe. Durch Fernsehen und Internet sei wieder etwas von der alten, unmittelbaren Bindung des Volkes an seine jeweilige Nummer eins zurückgekommen. Die bildliche Dauerpräsenz der letzteren erzeugt ein spontanes Identifizierungsverlangen beim Zuschauer, und dieses wird enttäuscht, wenn bei neu auftauchenden wichtigen Fragen die Nummer eins allzu lange schweigt und es hinnimmt, daß sich minore Größen vor der Kamera tummeln und verbale Scheingefechte austragen.

Sicher, die Sprechblasen der Paladine lassen sich nicht ohne weiteres ignorieren. Auch ist die Macht der (Partei-)Gremien groß, und sie wird von den Gremienmitgliedern planvoll ausgenutzt, um die Nummer eins „einzubinden“ und sie dadurch klein zu halten. Aber freilich, gerade hier liegt auch eine Chance für Nummer eins, denn ihr Sympathie-Bonus beim Volk ist im allgemeinen haltbar genug, um sich ohne Gefahr partiell von den Gremien abzuheben und sie in den Augen der Öffentlichkeit hinterrücks zu blamieren.

Sich absetzen von den eigenen Gremien und Koalitionen, direkt ans Volk appellieren – so etwas bezeichnete man in alten Zeiten übrigens mißbilligend als „Bonapartismus“, in Erinnerung an den Aufstieg Napoleons aus dem großen Meinungssuff der Revolution von 1789. Heute wirkt solcher Bonapartismus, in homöopatischen Dosen serviert, eher erfrischend und die Demokratie belebend. Er gehört inzwischen zu jedem guten Führungsstil; wer ihn erfolgreich einsetzen will, muß allerdings Charismatiker sein, zumindest charismatische Momente haben.

Kanzlerin Merkel verfügt über kein Charisma, sie dürfte deshalb vor jeglicher bonapartistischer Versuchung gefeit sein, Aber das Auffällige ist eben: Trotzdem erzeugt sie am laufenden Band charismatische Effekte, blamiert ohne eigenen Gesichtsverlust Gremien und Koalitionen, denen sie selber vorsteht, erzeugt in weiten Kreisen Gefühle politischer Geborgenheit, die allein ihr zugute kommen („Mutti wird’s schon richten“), erringt scheinbar mühelos – um mit Romain Rolland zu sprechen – eine Position au-dessus de la mêlée („über dem Getümmel“). Wie ist so etwas möglich?

Hier käme nun wohl jenes „Karma“ ins Spiel, von dem der indische Kollege sprach. Das gute Karma ist nach Ansicht der Hinduisten in der Tat viel mehr als Charisma, es verbindet den mit ihm Gesegneten direkt und von vornherein mit der Wirklichkeit des Richtigen und Gelingenden. Gedanke, Tat und Gelingen sind eins. Wer ein gutes Karma hat, der braucht sich, um Erfolg zu haben, nach keiner Richtung hin extra aufzuspielen, er ist von vornherein das leibhaftige „System“ an sich und überhaupt, es gibt zu ihm nicht die geringste Alternative.

„Wenn eine Politikerin“, so der indische Politologe, „gern und offenbar stets aus tiefer innerer Überzeugung von Alternativlosigkeit spricht und die von ihr betriebenen Geschäfte laufen dazu auch noch gut oder zumindest passabel, so ist das ein Ausdruck von gutem Karma. Dagegen ist schwer anzugehen, nach unserer hinduistischen Überzeugung überhaupt nicht.“

„Aber das Karma ist doch“, wandte Pankraz ein, nachdem er sich von seiner Verblüffung erholt hatte, „eine für die Lebenspraxis und also auch für die Politik völlig unhandliche Kategorie! Wer sich von ihm erwählt glaubt, will nichts verändern, sondern immer nur so weitermachen wie bisher, damit er nicht via Seelenwanderung eines bösen Tages als Ratte oder Küchenschabe aufwacht. Außerdem mündet jedes gute Karma im Nirwana, also im Nichts. Wem gefällt denn so etwas?“

„Warten Sie nur ab“, meinte der Inder abschließend, „wir sind jedenfalls schon Schwellenland, während sich euer Europa auf dem absteigenden Ast befindet. Daran wird nicht einmal Frau Merkels gutes Karma etwas ändern.“

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