© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  06/14 / 31. Januar 2014

Punktsieg für die Opposition
Ukraine: Regierung zurückgetreten / Janukowitsch-Gegner besetzen Regionalverwaltungen
Christian Rudolf

Die Ereignisse in Kiew jagen sich. Stündlich gehen neue Meldungen über die Liveticker der großen Nachrichtenportale ein: Dienstag 6.08 Uhr: „Angespannte Ruhe in Kiew“, 6.19 Uhr: „Klitschko warnt vor Ausnahmezustand“, 9.32 Uhr: „Eilmeldung aus Kiew! Ukrainischer Ministerpräsident bietet Rücktritt an“, 11.01 Uhr: „Die gesamte ukrainische Regierung tritt zurück“, 11.40 Uhr: „Parlament stimmt nach Pause für Aufhebung eines Teils der umstrittenen Gesetze vom 16. Januar“.

Die Opposition gegen die Regierung ist aufs Ganze gegangen und hat damit nach monatelangem Kräftemessen erste handfeste Erfolge errungen. Die Regierung unter Ministerpräsident Mikola Azarow ist bei einer Sondersitzung des Parlaments zurückgetreten.

Was das Morgen bringt, weiß niemand

Daß der 66jährige Azarow, ein enger Vertrauter des Staatspräsidenten, als Bauernopfer würde gehen müssen, hatte sich bereits am Wochenende abgezeichnet: Wiktor Janukowitsch bot den Führern der parlamentarischen Opposition unter dem Druck der Unruhen eine Art Große Koalition an. Arsenij Jacenjuk, Fraktionschef von Julia Timoschenkos Partei „Vaterland“, sollte Regierungschef werden, Udar-Chef Vitali Klitschko dessen Stellvertreter.

Im Hochgefühl ihrer Stärke wies die prowestliche Opposition das Anerbieten zurück und erneuerte die bekannten Forderungen. Deren kleinster gemeinsamer Nenner sind: vorgezogene Neuwahlen im Oktober und Wiederinkraftsetzung der vor 2004 geltenden Verfassung. Diese gibt dem Parlament gegenüber dem Präsidenten mehr Macht.

Zur Stunde weiß keiner, was das Morgen bringt – und was die Opposition außer dem unbedingten Willen zum totalen Machtwechsel vereint; vor allem aber, was sie besser machen will als die „Orangenen“ von 2004, deren Unfähigkeit und schließliches Scheitern zu tiefer Enttäuschung und Resignation führten. Außer der Forderung nach einer Entfernung Präsident Kutschmas von der Macht wurde keine der Versprechungen, die Juschtschenko und Timoschenko damals auf dem Kiewer Unabhängigkeitsplatz, dem „Majdan“ gaben, umgesetzt.

Die Bilder aus Kiew heute zeigten zuletzt anarchische, apokalyptische Szenen. Teile der Innenstadt gleichen einem Schlachtfeld, einem flammenden Inferno. Wer dort bei minus 15 Grad tagelang revoltiert, hat vorher garantiert keine Bahnsteigkarte gekauft. Was im November als friedlicher Protest gegen eine als falsch empfundene außenpolitische Richtungsentscheidung des Staatschefs begann, weitete sich rasch zu Bekundungen allgemeiner Unzufriedenheit gegen die „Macht“, gegen die alle Lebensbereiche durchdringende Korruption, Justizwillkür und die schlechte Wirtschaftslage, die jährlich Tausende, insbesondere aus der ländlichen Westukraine zur Arbeitsmigration nach Westeuropa zwingt.

Mitte Januar wechselten spürbar die Akteure auf dem Majdan, rohe Gewalt brach sich Bahn, Hooligans randalierten, es gab Tote – ob immer durch Polizeikugeln, ist nicht auszumachen. Medien berichten von bezahlten Gewalt-Provokateuren, den berüchtigten „Tytuschki“, die wahlweise von Janukowitsch oder gleich vom Kreml bezahlt würden, und von Hetzparolen gegen Juden und Gewaltexzessen der Radikalnationalisten der Partei „Freiheit“ von Oleg Tjagnibok, dem dritten im oppositionellen Zweckbund. Für Beobachter von außen ist es praktisch unmöglich, Wahres von gesteuerter Propaganda sicher zu scheiden.

In den vergangenen Tagen hatten sich die Umsturzversuche der Regierungsgegner auf andere Landesteile ausgeweitet. Demonstranten, nach Berichten polnischer Medien vielfach Aktivisten der „Freiheit“, besetzten in 14 von 26 Gebietshauptstädten des Landes die Regionalverwaltungen, so in der gesamten Westukraine, bildeten „Volksräte“ und erklärten die Gouverneure für abgesetzt. Auf der autonomen Krim wiederum, die Stützpunkt der russischen Schwarzmeerflotte ist, wurden Betätigungen der Freiheitspartei verboten.

Klitschko wird am Wochenende auf der Münchner Sicherheitskonferenz erwartet. Mit den jüngsten Ereignissen dürfte er seinem Ziel, Präsidentschaftskandidat zu werden, einen großen Schritt näher gekommen sein.

Foto: Udar-Chef Vitali Klitschko, Vaterland-Fraktionschef Arsenij Jacenjuk und Freiheit-Parteichef Oleg Tjagnibok (v.l.n.r.): Wille zur Macht

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