© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  05/14 / 24. Januar 2014

Das unmenschliche Kriegsgeschehen kann nur entsetzen
Ein Bildband über den Ersten Weltkrieg dokumentiert, wie Karl Kraus die letzten Tage der Menschheit sehen konnte
Hans-Bernhard Wuermeling

Immer wieder nennt der scharfzüngige Wiener Kulturkritiker Karl Kraus (1874–1936) die Zeit des Ersten Weltkrieges eine „große Zeit“. Doch ist das bei ihm, der diese Zeit als „die letzten Tage der Menschheit“ versteht und zwischen 1916 und 1919 dramatisch verarbeitet hat, nur ein sarkastisches Zitat jener damals verbreiteten Redensart.

Von der „großen Zeit“ sprach die Kriegspropaganda, sprachen die davon verblendeten Massen, sprach man auch dann noch, als die europäische Selbstzerfleischung ihrem Höhepunkt zustrebte. Karl Kraus hat in dieser Zeit „die unwahrscheinlichsten Zitate“ gesammelt, die die Hohlheit des damaligen Denkens demonstrierten und den Mangel an Entsetzen über das unmenschliche Kriegsgeschehen erkennen ließen, ja sogar das bewußte Weglügen der grausamen Wirklichkeit. Karl Kraus’ monumentales Drama besteht großenteils nur aus solchen Zitaten: „Mit die Verwundeten is’ immer eine Schererei.“ – „Die Truppen sind befehlsgemäß zu opfern.“ – „Gefangene werden nicht gemacht.“ – „... unerträglich schlechte Behandlung unserer Gefangenen in Italien.“ – „Ärztlicherseits wurde ausdrücklich die Bekömmlichkeit der gegenwärtigen Kriegskost festgestellt, der wir es zu verdanken haben, daß die Erkrankungen, bei Männern wie bei Frauen, in ständigem Rückgang begriffen sind. Von den Säuglingen gar nicht zu reden, für die in völlig ausreichender und vorbildlicher Weise gesorgt wird.“

Auch diejenigen, die den Krieg überlebt haben, läßt Karl Kraus in ihrer horrenden Respektlosigkeit agieren (nach einer Reiseannonce in einer Schweizer Zeitung): „Die Touristen zerstreuen sich in Gruppen, photographieren sich gegenseitig in heroischen Stellungen, parodieren Feuersalven, lachen und stoßen Schreie aus. Einer hat einen Schädel gefunden, steckt ihn auf das Ende seines Spazierstockes und bringt ihn mit triumphierendem Gesicht.“ Ein einzelner, ein Trauernder, tritt dann dazwischen, nimmt den Fund an sich und begräbt den Schädel. Diese letzte Szene ist eine der ganz wenigen nicht sarkastischen im Werk von Karl Kraus.

Bilder aus zeitgenössischen Zeitungen und Illustrierten

Der Wiener Fotohistoriker Anton Holzer hat jetzt, ein Jahrhundert nach Beginn des Ersten Weltkriegs, Bilder ausgesucht, wie sie damals in Zeitungen und Illustrierten erschienen sind. Bilder dieser Art dürften Karl Kraus bei seinen Zeitungslektüren beeindruckt haben. Holzer stellt sie jetzt Textteilen aus den „Letzten Tagen der Menschheit“ klug gegenüber. Oft beeindrucken dabei die abgebildeten Wirklichkeiten mehr als die Texte. Jedenfalls aber runden sie das Bild der letzten Tage der Menschheit realistisch ab: ein halbnackter Mann mit Arm- und Beinstümpfen, tot hingestreckte Soldaten, verendete Pferde, von Schützengräben und Granateinschlägen zerfurchte Erde an der Somme.

Das Buch hat innerhalb kurzer Frist einen Bestseller-Rang erreicht. Die Bundeszentrale für politische Bildung erwarb allein 3.000 Exemplare, um 2014 auf den Beginn der „Urkatastrophe Europas“ vor hundert Jahren eindrücklich aufmerksam zu machen.

Der heutige Leser und Bildbetrachter wird sich schaudernd von Karl Kraus’ Texten und den dazugestellten Bildern abwenden und sich wohlig darüber freuen, daß er in einem Mitteleuropa lebt, in dem es seit nun fast sieben Jahrzehnten keinen Krieg mehr gegeben hat. Die Rede von den letzten Tagen der Menschheit mag er als eine Fehleinschätzung von Karl Kraus ansehen. Schließlich hat man „Vierzehn-Achtzehn“ überlebt und die Menschheit auch – abgesehen von den mehreren Millionen Ausnahmen.

Denkt man die Geschichte des Ersten Weltkrieges, dieser Urkatastrophe des Kontinents jedoch weiter, ist Kraus’ Einschätzung vielleicht doch nicht zu übertrieben. Immerhin hat Europa seit dem Ersten Weltkrieg eine rote und eine braune Diktatur und einen Zweiten Weltkrieg erlebt. Also haben die letzten Tage der Menschheit vielleicht einfach angedauert, ohne daß ein Karl Kraus sie weiter beschreiben konnte.

Anton Holzer (Hrsg.): Die letzten Tage der Menschheit. Der Erste Weltkrieg in Bildern. Mit Texten von Karl Kraus, Pri-mus Verlag, Darmstadt 2013, gebunden, 144 Seiten, Abbildungen, 29,90 Euro

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