© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  05/14 / 24. Januar 2014

Pankraz,
C. F. Volney und die Menschenrechte

Es erscheint hoch an der Zeit, wieder einmal über Reichweite und Bedeutung des Wortes „Menschenrechte“ nachzudenken. Die „Menschenrechte“ sind zur Zeit ja in aller Munde. Kein politischer Polemiker oder Lobbyist, der sie nicht mit größtem Pathos für seine Klientel einforderte. Auf faktisch alles soll man heute ein „Menschenrecht“ haben, ein Recht also, das einem von Natur aus zustehe und dem sich jedes kodifizierte Bürgerrecht oder Staatsrecht im Zweifelsfall zu unterwerfen habe.

Die Situation erinnert fatal an das Jahr 1791, als während der Revolution in Frankreich der Bürger Constantin François Chasseboeuf Boisgirais, gewesener Comte de Volney und Mitglied der Nationalversammlung, seine „Beobachtungen über die Revolutionen der Reiche“ herausbrachte, wo er „im Namen des heiligen Lehrsatzes der Gleichheit“ die Ersetzung aller bestehenden Gesetzesbücher durch einen „Katechismus der natürlichen Menschenrechte“ forderte. Volney überlebte alle Kopf-ab-Orgien der Jakobi-nerzeit, doch einen Katechismus wie den von ihm ersehnten gibt es bis heute nicht.

Es kann ihn gar nicht geben, weil sich „Menschenrechte“ nicht kodifizieren, sondern höchstens deklarieren lassen. Die Menschen haben ihn auch niemals vermißt. Jahrtausendelang lag ihrem Moralisieren und Justifizieren die Überzeugung zugrunde, daß die Befolgung des über den einzelnen gesetzten Rechts Vorteil, seine Mißachtung Nachteil bringe. Erst die griechischen Philosophen sprengten dieses Denkschema auf, indem sie das „Naturgesetz“ von dem gesetzten Recht trennten und letzteres schon zur Zeit der Sophisten einer oftmals ätzenden Kritik unterzogen.

Der zweite Schritt war dann das Postulat, daß der einzelne Mensch als Teil der Natur beziehungsweise als Kind Gottes über gewisse unveräußerliche „Naturrechte“ verfüge, die vom Staat nicht angetastet werden dürften. Fixpunkt des Naturrechts war dabei von Anfang an nicht das materielle Wohlergehen, sondern die Würde des Menschen. Generationen von Theologen, Philosophen und Juristen haben daran gearbeitet, das „natürliche Recht“ des Menschen und seine Würde immer wieder gegen das gesetzte, das „positive“ Recht der Staaten und Gemeinschaften zu verteidigen und in seiner Unveräußerlichkeit herauszustellen.

Die großen Dokumente der Menschenrechtsbewegung, die Magna Charta libertatum von 1215, die Habeas-Corpus-Akte von 1679, das Bill-of-Rights-Amendment der amerikanischen Verfassung von 1776, die Deklaration der Menschenrechte durch die Vereinten Nationen von 1948, die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten von 1952 – sie alle weisen über die Jahrhunderte hinweg sowohl im Pathos wie in den einzelnen Festlegungen eine erstaunliche Kontinuität auf, so daß es Relativierern bisher sehr schwerfiel, irgendwelche Erweiterungen oder Banalisierungen einzuschmuggeln.

Glaubensfreiheit, Meinungsfreiheit, Vereinigungsfreiheit, Gleichheit vor dem Gesetz, Unverletzlichkeit der Wohnung und Garantie des Eigentums: das sind die Grundwerte, die aus allen Dokumenten zumindest hervorleuchten. Selbstredend zeigt jeder einzelne Wert eine verschiedene historische Situation an. Wer die Meinungsfreiheit fordert, muß etwas zu sagen haben, wer die Unverletzlichkeit der Wohnung beansprucht, muß eine eigene Wohnung besitzen usw. Was aber alle Grundrechte über die Zeiten hinweg miteinander verbindet, ist ihr dezidierter Formalismus.

Dem einzelnen wird materiell nichts versprochen, ihm wird lediglich ein Freiraum garantiert, in dem er sich selbst bewähren kann – nach Maßgabe seiner physischen und geistigen Möglichkeiten. Und damit ist die entscheidende Bestimmung erreicht: Die Menschenrechte sind die Bedingung dafür, daß der Mensch auch im dichtesten Geflecht notwendiger sozialer und politischer Bindungen er selbst bleiben kann; sie liefern jedoch keinen Freibrief für Egoismus und partikuläre Gruppeninteressen, das Recht des einen begegnet dem Recht des anderen, und beide aufeinander abzustimmen bleibt positiver Gesetzgebung überlassen.

Menschliches Leben ist nur im Rahmen staatlicher und sozialer Ordnungen möglich, und das heißt, daß die Freiheit des einzelnen immer staatlichen und sozialen Beschränkungen unterliegt. Nur, die Menschenrechte markieren eine deutliche Grenze für den Zugriff der Verhältnisse und Instanzen, und eine Gesellschaft, die die Menschenrechte anerkennt, gibt dadurch zu verstehen, daß sie sich nicht für allzuständig hält, daß sie ihre Grenze findet sowohl an der geistigen Autonomie des einzelnen wie am Walten transzendenter Kräfte.

Professionelle „Menschenrechtler“ können nur überzeugen, indem ihre eigenen Grenzen markieren. Ihr Stil muß von anspruchsvoller Bescheidenheit sein, denn sie verlangen ja, wenn sie es ernst meinen, nichts Außerordentliches, sie verlangen nur, „was sich von selbst versteht“. Aber gerade dieses Selbstverständliche ist in unseren Tagen zum Schwersten und auch zum Höchsten geworden, zu einer wahrhaft konkreten Utopie, um deren Verwirklichung gerungen und gegebenenfalls auch gekämpft werden darf.

Gesprochen werden sollte über Menschenrechte freilich stets maßvoll und, dies vor allem, ohne jeden rechthaberischen Duktus. Das mittlerweile fast im Dauerton zu vernehmende Gekeife vieler westlicher Medien über „fehlende Menschenrechte“ in fernen Weltgegenden wirkt nur noch abstoßend. Es ist zum bloßen Propagandawort geworden, zum Mittel, von Verletzungen der Menschenrechte im eigenen Herrschaftsbereich abzulenken und eigene geopolitische Ränkespiele und Machtgelüste zu bemänteln.

Andererseits gilt: Menschenrechte tragen keinen feiertäglichen Bratenrock, sie dürfen nicht für „bessere Zeiten“ aufgespart werden, sie sind genau für die schlechteren Zeiten, für Krisenzeiten gut. Denn nur sie können solche Zeiten erträglich machen. Sie ermöglichen auch unter widrigen Umständen einen aufrechten Gang.

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen