© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  05/14 / 24. Januar 2014

In der Hölle von Hastings
Besuch in Vancouvers Elendsviertel: Downtown Eastside protzt mit prunkvollen Geschäftshäusern, nur ein paar Ecken weiter herrschen Elend und Frustration
Marc Zöllner

Willkommen in jenem Teil Vancouvers, wo kein Taxi mehr für dich hält.“ Die junge Frau lächelt freundlich, als sie mir die Wagentür aufhält. Und tatsächlich: Kaum aus dem Auto gestiegen, gibt dessen Fahrer auch schon wieder Gas, das Freizeichen erst erneut anschaltend, nachdem er die nächsten drei Ampeln passiert hat.

Eigentlich hätte man den Weg vom Apartment in der Innenstadt hierher auch zu Fuß zurücklegen können. Es regnete jedoch in Strömen. Das übliche Winterwetter in dieser Millionenmetropole im äußersten Westen des zweitgrößten Landes der Erde, wo die Wolkenschwaden des Pazifiks an den Hängen der Rocky Mountains rund zweihundert Tage im Jahr in Sturzbächen vom Himmel brechen.

Touristen werden vor dem Betreten des Areals gewarnt

Ein Glück von daher für die Kanadier, daß in Vancouvers Downtown alles dicht beisammen liegt: die Theater, die Kneipenmeilen, die Geschäfts- und Wohnräume der Einheimischen. Auch die East Hastings Street gehörte einst dazu. Vor wenigen Jahrzehnten noch bildete sie sogar das Zentrum der pulsierenden, aufblühenden Stadt. Doch diese Zeiten sind lange vorbei. Fragwürdig ausgezeichnet mit dem Titel der „ärmsten Postleitzahl Kanadas“, finden sich in diesem Viertel längst nur noch Elend, Obdachlosigkeit und Frustration.

Wer hier landet, der bleibt für immer. Oder zumindest – was die gefühlte Lebenserwartung in der East Hastings betrifft – für ein recht kurzes Immer. Touristen verirren sich nicht in diese Gegend. Kanada hat weitaus schönere Seiten zu bieten. Doch auch Einheimische meiden die Straßenzüge im Herzen der Innenstadt, die Vancouvers Slums ausmachen. Es gibt keine Restaurants oder Geschäfte mehr. Ein verwaister „Victory“-Supermarkt, der einmal die Woche mit warmen Hot dogs wirbt, bildet die einzige legale Einkaufsmöglichkeit der Gegend. Was sich jedoch zuhauf findet, sind Obdachlosenunterkünfte, Drogenberatungen, abgewrackte Hotels und Bars mit fragwürdiger Klientel.

Am Tresen eines dieser Etablissements wartet bereits Nirmal. Der gelernte Ökonom kam in den späten Achtzigern aus Indien nach Kanada. Als politisch Verfolgter, wie er berichtet, als Sikh, der sich wie viele andere seiner Landsleute nach der Erstürmung des Goldenen Tempels, des zentralen Heiligtums seiner Religion, durch Regierungstruppen im Jahre 1984 gezwungen sah, das Land zu verlassen. Seit fünf Jahren betreibt er das „Brandiz“. Nirmal kennt Land und Leute in den Slums mittlerweile wie seine Westentasche; die langjährige Freundschaft zu ihm ist einer der wenigen Gründe, aus welchen man sich als Fremder gefahrlos in diese Gegend begeben darf.

Das Brandiz stellt nur noch eine Kaschemme dar. Die letzten größeren Renovierungsarbeiten fanden irgendwann in den Neunzigern statt. Der Putz bröckelt von den Wänden, den Raum füllen einige karge Tische und Stühle. In den Ecken lümmeln sich Junkies, abgebrannte Freier und abgehalfterte Prostituierte. Ein paar Gangmitglieder lateinamerikanischer Herkunft vertreiben sich die Zeit beim Snooker. Trotz alledem ist das Brandiz nicht der schlechteste Ort zum Trinken. Das Bier ist vergleichsweise preiswert, die Toiletten stets sauber, und mit jedem Gast, auf den man an der Bar trifft, lernt man eine neue, schier unglaubliche Geschichte kennen.

So wie jene von Arlene, einer schon etwas gealterten karibischen Schönheit. Die Hälfte ihres Lebens verbrachte sie in Hochsicherheitsgefängnissen, berichtet sie. Als Jugendliche tanzte Arlene in den Lokalen von Trinidad, bis sie von einem Touristen aufgelesen wurde, der ihr ein Leben in Wohlstand versprach. In Kanada angelangt, entdeckte sie jedoch, daß er sie belogen hatte. Sein bettelarmes Leben und ihre Ausweglosigkeit, gestrandet fernab der Heimat, widerte sie an. Also erschlug sie ihn. Ob sie ihre Tat bereut? Natürlich nicht, erwidert sie trotzig. Schließlich sei sie eine stolze Karibierin, und um diese hat Mann gefälligst ehrlich zu werben.

Aus dem Gefängnis entlassen, paßte Arlene sich in ihrer Lebensführung den Gepflogenheiten der East Hastings an. Sie betreut nun jüngere Prostituierte im Viertel. Gewalt gegen Frauen habe sie in ihrer Haftzeit zur Genüge erdulden müssen; nun schütze sie ihre weiblichen Zöglinge vom Straßenstrich vor der Gewalt ihrer Klientel – natürlich nur gegen Provision.

Phantasiereich ist auch das Tagwerk von Jonathan. Der schlaksige Mittzwanziger mit dem „Vancouver Canucks“-Basecap strandete als Drogensüchtiger in der East Hastings. Seine Sucht finanzierte er zuerst mit Taschendiebstahl. Mittlerweile jedoch, erzählt er, sei er groß im Geschäft: Supermärkte, Drogerien, Kaufhäuser. Jeden Morgen dreht er seine Runde, kauft eine Kleinigkeit und schmuggelt währenddessen eine beachtliche Menge an Luxusgütern aus den Regalen der Einkaufstempel in die Straßen des Slums. „Als Weißer hast du den Vorteil, von den Sicherheitskräften kaum kontrolliert zu werden“, berichtet Jonathan beim gemeinsamen Bier. „Die schauen immer nur in die Taschen der Farbigen, der Indianer und Schwarzen.“

Nur mit der Axt in der Hand duschen gehen

Überdies sei auch der Verdienst nicht der schlechteste. Umgerechnet zwischen fünfzig und hundert Euro bringe er jeden Abend heim, nachdem er seine Hehlerware hinter den Tresen der Bars, den zentralen Umschlagsplätzen für hochwertiges Diebesgut, abgelagert hat, rechnet er stolz vor. Hinzu kämen noch seine Nebeneinkünfte aus gelegentlichen Crack- und Heroindeals. Damit zählt Jonathan bereits in seinen jungen Jahren zu den Wohlhabendsten der Slums von East Hastings.

„Vor vielen Jahren, als die East Hastings Street noch zu den Vorzeigegegenden Vancouvers gehörte, sah hier alles ganz anders aus“, berichtet Nirmal schwermütig. „Damals besaß auch das Brandiz noch drei separate Bars, an denen sich die Reichen und Schönen der Stadt trafen. Ohne Anzug und Krawatte ließen dich die Türsteher gar nicht erst hinein.“ Was von diesen Zeiten einzig übrigblieb, ist ein Greifautomat für Kuscheltiere, der unbenutzt in der Ecke verstaubt, sowie die Fassade von Bar Nummer drei. Der Türsteher, der jedes Wochenende angeheuert wird, erfüllt nur noch die Aufgabe, die Indianer von der Kneipe fernzuhalten. Die Slums sind ein trister, haßerfüllter, auf jeden Quadratzentimeter unter den alten wie neuen Ethnien Kanadas aufgeteilter Ort.

Früher war hier alles genau sowie in Gastown“, erklärt einer der Anwesenden mit Verweis auf das gleich zwei Ecken weiter angrenzende Quartier. In jenem offiziell deklarierten Vergnügungsviertel Vancouvers findet sich noch heute eine Kneipe nach der anderen. Burger-Grills und Sushi-Bars laden ihre Gäste zum längeren Verweilen ein. Auf den Straßen geben sich Rockstars und Filmsternchen mit Berufsalkoholikern und Smartphone-Apps programmierenden Skatepunks die Klinke in die Hand; in den Hostels wiederum Rucksacktouristen aus Europa, dem Osten Kanadas und den Vereinigten Staaten. Jugendliche, die auf der Suche nach Abenteuer sind.

Eine Suche, die nicht selten tödlich endet: Davon zeugen in den Slums um die Ecke die auf den kahlen Mauern plakatierten unzähligen Vermißtenanzeigen ihrer Verwandten aus Übersee. Kein Ort in Kanada gilt als gefährlicher als die Straßen von East Hastings. Nirgends verschwinden mehr Menschen. „Seit der Staat vor ein paar Jahren aus Kostengründen die meisten Irrenanstalten geschlossen und deren Einwohner auf die Straße gesetzt hat, ist hier die Hölle los“, berichtet eine sich selbst als Sozialarbeiterin bezeichnende junge Frau im Minirock und High Heels, die gern Stella genannt werden möchte. „Die Leute bringen dich im Winter sogar für einen Schlafplatz noch um.“

Stella selbst lebt im Balmora, einem einstigen Hotel, welches von seinem Besitzer zur Monatsherberge umfunktioniert wurde. Umgerechnet vierhundert Euro zahlt sie Miete, hausinternes W-LAN sowie ein Gemeinschaftsbad auf dem Flur inbegriffen. Ein Spottpreis im Herzen der teuersten Stadt Nordamerikas. „Doch duschen“, so Stella, „kann ich hier nur mit der Axt bewaffnet gehen. Sonst würde ich sofort von meinen Mitbewohnern vergewaltigt.“

Doch letzten Endes, meint Stella, sei jede Unterkunft besser, als zwischen den Hunderten Obdachlosen vegetieren zu müssen, die sich nachts Seite an Seite auf den Bürgersteigen zu Tode frieren. Oder mit den Gerümpelsammlern umherzuziehen, welche mit ihren Kolonnen an Einkaufswagen aus den Müllcontainern der Stadt verwerten, was die Ratten ihnen übriglassen.

 

East Hastings

Zur Gründung der Stadt Vancouver stellte das Areal um die East Hastings Street das Herzstück der Stadt dar. Hier fanden sich ab dem Jahr 1900 unter anderem das Rathaus, der Gerichtssaal sowie der Sitz der Eisenbahngesellschaft. Mit dem Zuzug Zehntausender Einwanderer, vorrangig aus China, kam jedoch auch der rapide Verfall des Quartiers: Die Mietpreise explodierten, der Einzelhandel verlagerte sich in die Peripherien der Stadt. Drogenkonsum, Alkoholismus und Prostitution nahmen überhand. Heutzutage sind zwei von drei Einwohnern der 17.000-Seelen-Gemeinde arbeitslos (62 Prozent), das durchschnittliche jährliche Pro-Kopf-Einkommen liegt mit 6.200 kanadischen Dollar (rund 4.000 Euro) weit unter dem kanadischen Schnitt von 21.000 Dollar (rund 14.000 Euro). Verglichen mit dem Rest des Landes ist die Lebenserwartung für Frauen in East Hastings um 4,5 Jahre geringer. Männer sterben im Mittel sogar elf Jahre früher als ihre Landsleute außerhalb der Slums.

Foto: Der tägliche Kampf ums Überleben in der kanadischen Metropole Vancouver: Tagsüber wird das aus den Müllcontainern der Stadt verwertet, was die Ratten übriggelassen haben, abends sind die Gestrauchelten froh über einen geschützten Schlafplatz

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