© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  04/14 / 17. Januar 2014

Es muß um das Gemeinwohl gehen
Der Rostocker Althistoriker Egon Flaig über das Wesen der Demokratie und ihre Gefahren
Gerhard Vierfuss

Der Souverän ist das Volk – darin sind alle einig. Demokratie also. Doch was bedeutet das genau? Welche Voraussetzungen müssen gegeben sein, damit der Demos, das Volk, tatsächlich herrscht? Was ist der unabdingbare Kern jeder Demokratie?

Egon Flaig, Professor für Alte Geschichte an der Universität Rostock, antwortet darauf: Daß Beschlüsse durch Abstimmung zustande kommen und die Mehrheit entscheidet. An dieser Stelle beginnt sich Widerstand zu regen: Bedeutet das nicht – in dieser Allgemeinheit ausgesprochen – die Legitimation einer Diktatur der Mehrheit über die Minderheit? Ist nicht zu deren Schutz die Einfügung konsensualer Elemente erforderlich? Und: Darf die Mehrheit wirklich über alles entscheiden? Gibt es nicht Unverfügbares – Menschenrechte, die Interessen zukünftiger Generationen, die Erhaltung des Planeten?

Auf diese und weitere Einwände geht Flaig in seiner Monographie „Die Mehrheitsentscheidung. Entstehung und kulturelle Dynamik“ ausführlich ein. Doch zuvor gibt er eine umfassende Darstellung seines Gegenstandes in historischer und begrifflich-theoretischer Hinsicht. Dabei baut er neben den Forschungen seines eigenen Fachgebietes auf Untersuchungen der Rechtsgeschichte, der Soziologie, der Politologie und der politischen Anthropologie auf.

Sein eigener Ausgangspunkt ist der Befund, daß die allermeisten Kulturen Entscheidungen durch echten oder scheinbaren Konsens trafen. Die Entstehung der Mehrheitsregel stellt daher eine kulturelle Ausnahme dar. Weltgeschichtlich sind nur fünf Fälle bekannt, in denen sie, unabhängig voneinander, auftrat: in Griechenland seit dem 8. Jahrhundert v. Chr.; im antiken Rom; im vorexilischen Judentum; in frühen nord-indischen Republiken und schließlich im Island des 9. und 10. Jahrhunderts.

Welche Umstände begünstigten die Mehrheitsregel? In der griechischen Polis sieht Flaig ihre Grundlage zum einen in der Schwäche der Religion, die keine spezialisierte Priesterkaste und keine dogmatische Theologie hervorbrachte, und zum anderen in der agonalen, also von Wettkämpfen geprägten griechischen Kultur. Hieraus ergaben sich mehrere Konsequenzen: zunächst der Gedanke der Gleichheit – ein Wettkampf erfordert, daß alle über die gleichen Chancen verfügen. Sodann die Akzeptanz abstrakter Regeln anstelle des Befolgens von Befehlen. Drittens die Entwicklung der Fähigkeit, Niederlagen einzustecken, sie nicht als unerträgliche Schmach zu empfinden. Und schließlich, insbesondere bei den musischen Agonen, die durch Schiedsrichter entschieden wurden: die Notwendigkeit der Mehrheitsentscheidung.

Die Demokratie befindet sich auf dem Rückzug

Die Versammlungsdemokratie der griechischen Poleis ist für Flaig paradigmatisch: „Hier kam es zur höchsten Differenzierung der öffentlichen Räume in der Geschichte. (…) Die sogenannte Moderne hat dieses Niveau nicht wieder erreicht.“ Flaig unterlegt dieses Urteil mit einer faktenreichen historischen Darstellung: von den Abstimmungsverfahren über die architektonischen Bedingungen der Pnyx, des athenischen Versammlungsbaus, die ein genaues Abzählen der Stimmen von 6.000 Bürgern innerhalb einer halben Stunde ermöglichten, bis zur Analyse einzelner politischer Entscheidungen. Als wesentlich für das Funktionieren der griechischen Demokratie benennt Flaig drei Faktoren: die Abwesenheit politischer Parteien, die ausgiebige Deliberation, also die Abwägung der Argumente für und wider, und die ausgeprägte Bereitschaft der Bürger, ihr Stimmverhalten am Gemeinwohl auszurichten.

Hierin liegt auch die Antwort auf den eingangs erwähnten Einwand. Zu einer Diktatur der Mehrheit über die Minderheit kann es nur dort kommen, wo abgegrenzte Gruppen mit Partialinteressen bestehen, die sie gegeneinander durchzusetzen versuchen. Wenn hingegen alle Entscheider in gemeinsamer Beratung abwägen, was für die res publica das Beste ist, bilden sich derartige Strukturen nicht aus. Allerdings, so Flaig, wird diese Gemeinwohlorientierung durch die gesellschaftliche Pluralität zunehmend in Frage gestellt. Auf die Frage nach dem Unverfügbaren erwidert Flaig: Dieses Problem sei dem politischen Denken seit der Antigone des Sophokles vertraut. Aber auch hier gelte: Die Entscheidung darüber, was als Unabstimmbares dem politischen Tagesgeschäft entzogen sei, könne nur der Souverän treffen, das Volk also, in seiner Mehrheit.

Entschieden weist Flaig die Prätentionen gesellschaftlicher Gruppen oder einzelner zurück, dem Volk bzw. seinem Repräsentativorgan diese Entscheidungskompetenz ab- und einer selbsternannten „moralischen Elite“ zuzusprechen. Seine Abkanzelung Habermas’ für dessen „Ermächtigungs-Theorem“ (Flaig) ist an intellektueller Schärfe kaum zu überbieten. Doch auch dem katholisch-konservative Philosophen Robert Spaemann entgegnet Flaig in argumentativer Vehemenz.

Die Mehrheitsentscheidung und mit ihr die Demokratie, so Flaig, befinden sich gegenwärtig auf dem Rückzug. Die Monopolisierung der politischen Willensbildung durch die Parteien habe dazu geführt, daß sich in den Parlamenten Blöcke mit vorgefertigten Meinungen gegenübersäßen; statt einer gemeinsamen Beratung in Orientierung am Gemeinwohl würden Partikularinteressen verfochten. Die so erfolgende Entpolitisierung der Parlamente werde noch verstärkt durch die Auslagerung der Entscheidungsfindung in die Ausschüsse, deren Ergebnisse im Plenum nur noch abgenickt würden. Doch auch in den Ausschüssen finde keine Deliberation statt; an deren Stelle sei ein Aushandeln partikularer Interessen getreten. Das Gemeinwohl und mit ihm die Volkssouveränität blieben dabei auf der Strecke.

Gibt es einen Ausweg aus dieser Lage? Flaig ist sich darüber im klaren, daß eine Rückkehr zur „reinen“ Form der Versammlungsdemokratie für die europäischen Staaten nicht möglich ist. Doch die zweitbeste Lösung stehe den Bürgern offen: Sie sollten, wenigstens fallweise, „ihr Schicksal selber in die Hand nehmen und (…) den institutionalisierten Willen des Souveräns in Volksentscheiden verlautbaren“. Eine Mahnung aus welthistorischer Perspektive, die wir ernst nehmen sollten.

Egon Flaig: Die Mehrheitsentscheidung. Entstehung und kulturelle Dynamik. Ferdinand Schöningh Verlag, Paderborn 2013, gebunden, 628 Seiten, Abbildungen, 58 Euro

Foto: Abstimmung: Zunehmend werden im Plenum die Entscheidungen der Ausschüsse nur noch abgenickt

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