© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  03/14 / 10. Januar 2014

Der Flaneur
Die Sirenen vom Bosporus
Sebastian Hennig

Der Regionalzug zwischen den Universitätsstädten Erfurt und Jena ist voll. Kaum habe ich einen Sitz ergattert, da dringt balkanesische Unterhaltungsmusik an meine Ohren. Zur Enge noch diese Qual! Drei türkische Halbstarke haben ein Gerät vor sich auf dem Tisch liegen, aus dem die Klangsuppe purzelt.

Daß solche Zumutung die Menge rat- und hilflos macht und es nicht gelingt zu ignorieren, genau darin besteht die Absicht des Übergriffes. Soll ich hingehen und den Unterschied zwischen Musik gleich welcher Art und elektrisch erzeugten Geräuschen auseinandersetzen sowie zu gesanglich vorgetragenen Darbietungen ermuntern? Bitte: Keine Drohnen steuern, sondern Mann gegen Mann fechten. Ich erhebe mich mehrmals spähend, um erkennen zu müssen, daß es nicht verfinge. Ein anderer Plan drängt sich auf: den Computer hochfahren und Walküren einreiten lassen. Über diese Phantasien schläfern mich die Sirenen vom Bosporus ein.

Daß solche Zumutung die Menge ratlos macht, genau darin besteht die Absicht des Übergriffs.

Erquickt erwache ich in einem geleerten Zug. Ein Auszug der Jenenser Studenten machte den Tisch gegenüber frei. Wer hören muß, will sehen, denke ich, will Gegenwart fühlen lassen, mache es mir demonstrativ bequem, ohne dabei Notiz von jenen zu nehmen, die sich so unüberhörbar zu machen trachteten, verteile Sakko, Reisetasche, Bücher und Lammfelljacke großzügig über die Sitze, räumliches Äquivalent zur akustischen Okkupation. Beginne stoisch in einem dickleibigen Ausstellungskatalog zu blättern.

Es liegt keine Aggressivität in der Luft. Zwei Songs werden noch zu Gehör gebracht, dann gibt man sich geschlagen. Eltern und Lehrer haben auch sie erzogen. Rücksichtsvoll leise Gespräche dienen jetzt nur noch der internen Verständigung. Als wir in Glauchau umsteigen, wird der anonyme neue Bekannte bereits vor der Perfektion der Technik in Schutz genommen. Der vor mir geht, wendet sich um, ohne Blickkontakt aufzunehmen und hält mittels des Tasters die hinter mir unbarmherzig zusammenfahren wollende Schiebetür offen. Der Weg ist frei.

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