© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  03/14 / 10. Januar 2014

Der Zirkus muß spielen!
Sarrasani: Ein Unternehmen mit über hundertjähriger Tradition / Bis Mitte Februar ist in Dresden das Dinner-Variétheater „Animagus“ zu erleben
Sebastian Hennig

Der Sarrasani ist eine internationale Zirkuslegende und dabei zugleich ein wichtiger Teil der mitteldeutschen Kulturgeschichte. Am Abend des 13. Februar 1945 fand im Zirkusbau in Dresden die letzte Vorstellung statt. Während Kunstreiterin Regina Berr mit Stallpersonal und Pferden am nahen Elbufer vom tödlichen Schicksal ereilt wurde, stürzte die Kuppel in die Manege. In ihren Käfigen erstickten neun Tiger.

Seit seiner Gründung 1902 hat „Sarrasani“ viele Wandlungen ausgehalten, ist nicht an ihnen gescheitert, sondern hat sie eifrig mitgeprägt. Beweglichkeit im Wettbewerb, ständige technische Aufrüstung und dramaturgische Innovation – das ist seit über hundert Jahren zum Schicksal dieses Gewerbes geworden.

Als 1897 der Gigant Renz Pleite macht, rollt eine Konkurswelle durch das Gewerbe. Gleichzeitig erscheint der amerikanische Großzirkus „Barnum & Bailey“ mit greller Reklame und Drei-Manegen-Zelt auf dem Kontinent. Die große Zeit der fahrenden Künstler, der Kavallerie und der Droschken ist vorbei. Die Situation ist die eines heruntergebrannten Feuers, aus dem zuweilen noch einmal ein harziger Kloben grell aufflackert.

Aus diesem Spätlicht einer sich abkühlenden Zauberkugel strahlte das Welttheater Sarrasani hervor. Der Gründer Hans Stosch, der als Jüngling sein schlesisches Elternhaus verläßt, um als Dressurclown umherzuziehen, hat über viele Jahre aufmerksam das Geschehen beobachtet und seine Schlüsse daraus gezogen. Die frühe Eigenwerbung verkündet den Namen „Sarrasani“: „... eine Fata Morgana im Traumbild des schlummernden Zirkusmannes hat ihm den Namen eingegeben. Von Wüstensturm und Blitzeszucken hat er geträumt, und aus Flammen und Sand wächst dieser sonderbare Name, der nun die Zirkuswelt Europas überglänzt.“

1912 wurde der feste Bau am Dresdner Königin-Carola-Platz eingeweiht. 1914 vereitelt der Kriegsbeginn das London-Gastspiel. Nach der alten wird die neue Welt erobert und dabei nie der Heimatbezug gelöst. Stosch-Sarrasani, der sich einst im Wägelchen von sechs Gänsen durch die Manege ziehen ließ, nutzte zeitig die Lastkraftwagentechnik für den Transport. Für die Mobilisierung war Fritz Mey zuständig, der 1956 in Mannheim den Zirkus wiedereröffnen sollte. Dem über sechzigjährigen Fritz Mey wurde 1972 ein Sohn geboren, der nun das Unternehmen souverän in die Heimat zurückgeführt hat. 1934 auf dem Totenbett in Sao Paulo soll Hans Stosch-Sarrasani darauf bestanden haben: „Der Zirkus muß spielen!“

André Mey-Sarrasani trat vor über dreißig Jahren als kleiner Bub mit diesem Spruch am Beginn des Finales jeder Vorstellung in die Manege. Dieses trotzige Insistieren auf einer zauberhaften Welt begleitet den Zirkus Sarrasani bis heute. So wie der alte Stosch sich dem industriellen Umbruch seiner Zeit anschmiegte, so etablierte Mey einen dynamischen Agentenzirkus.

Der Sohn André hat die Zauberkunst in Las Vegas erlernt und reagiert mit seinen Shows auf den „Roncalli-Effekt“ der achtziger Jahre. Das wirkt wie ein entfernter Nachklang der Strategie des Gründers, der bereits mittels durchchoreographierter romantisch-sentimentaler Zirkuspantomimen die Aufmerksamkeit des Publikums wieder zurückzugewinnen trachtete. Statt einer Manege gibt es in Dresden eine Bühne, die ohne Bande dicht von Tischen umstanden ist.

Mit seinem Programm „Circussterne“ ist Sarrasani über das Jahr in deutschen Großstädten unterwegs. In der Adventszeit und bis zum für den Zirkus wie die Stadt schicksalhaften Faschingsdienstag wird in Dresden Jahr für Jahr im Dinner-Variéte eine neue Schau präsentiert. Gegenüber einer gläsernen Automobilfabrik für Luxuslimousinen am Straßburger Platz ist das Chapiteau derzeit für die zehnte Spielzeit errichtet. Da ein Gestell das Zelt von außen hält, wird innen die Sicht nicht von den Masten verstellt, zudem müssen keine tiefen Anker in den Boden getrieben werden. So kann in bester Innenstadtlage gastiert werden.

Das „Trocadero“ in Dresden knüpft an das gleichnamige Verzehr-Varieté des 1945 zerstörten Zirkusbaues an. Speiste man seinerzeit à la carte zu Dauervorführungen, wird jetzt ein erlesenes Vier-Gänge-Menü zwischen den blockweisen Darbietungen durch ein Heer von Kellnern serviert. Clown Yello alias Lloyd Kandlin überbrückt geistreich die längere Servierpause zum Hauptgang mit der spiegelbildlichen Pantomime eines wartenden Speisegastes.

Die Dresdner Schau heißt dieses Jahr „Animagus“. Magus meint einen weisen Zauberer. Nun weht André Sarrasani sein Haar bereits weiß um den Kopf, doch seine Illusionsnummern laufen immer noch so flink ab, daß der Zuschauende mit Staunen kaum hinterherkommt.

Ein durchchoreographierter Verlauf kann aber auch nach hinten losgehen, wenn die Handlung keinen zwingenden Rahmen für die einzelnen Nummern bildet. Nach den zauberhaft homogenen Darbietungen mit wirkungsvollen Rahmenhandlungen „Jubilée“ (2012) und „Mutabo“ (2010) gibt sich „Animagus“ ebenso schütter wie „Luminesque“ im vorletzten Jahr.

Es ist unzweifelhaft ein hartes Stück Arbeit, einem treuen Publikum Jahr für Jahr etwas verblüffend Neues zu bieten. Wenn da der Kairos der Zirkuskunst nicht immer gleich stark waltet, kann man sich doch bei Sarrasani stets auf eine Reihung makelloser Darbietungen verlassen. Die Bewegungen des chinesischen Akrobaten gehen fließend und mühelos ineinander über. Das mongolische Schwesternpaar verbiegt sich auf eine Weise, daß einem der Überblick über die menschliche Anatomie völlig abhanden kommt. Ihre Mädchenfüße tippeln vor den eigenen starren Gesichtszügen über dem Boden.

Diese und andere Nummern sind wohl erstklassig, aber ein thematischer Faden wird diesmal nicht ersichtlich. Die Tanzpantomime des Vorspiels mit den Gespenstern im Zauberschloß geht später in ein schwarzes Kabinett über, in dem die Tänzer nur durch die leuchtenden Schläuche auf dem hautengen Kostüm sichtbar sind und rhythmisch an- und ausgeschaltet werden.

Der Impresario bietet im Anschluß eine sinnfrei verspielte Choreographie, in der Richtlaser über den Köpfen des Publikums irrlichtern. Droben über den Tischen rotieren in der stählernen Gitterkugel auch die südamerikanischen Motorradakrobaten. Sie rasen freihändig, halten sich aneinander fest. Dann kreuzen sich auf engstem Raum ihre Bahnen. Die Scheinwerfer werden ausgeschaltet. Das Dunkel saugt alles auf und nur die Beleuchtung der Kostüme flackert in drei Farben. Als tanzte der böse Geist der Maschinenwelt in der Netzkugel, die bedenklich über den Tischen schwankt. Doch das Geknatter der Maschinen schrumpft vor dem Gelärm der Disco-Musik zum Schnurren eines Kätzchens zusammen.

Wenn André Sarrasani in einem Anzug halb schwarz, halb weiß getigert, schließlich seine weiße Tigerin an der Handkette führt, versinkt das amüsierwillige Publikum an den Tischen in angespannte Reglosigkeit vor der reinen Majestät der Kreatur. Dann sind durch die Stille nur die zügelnden Rufe des Dompteurs zu vernehmen.

Was „Sarrasani“ nicht nur für Dresden, sondern für die Zirkuswelt insgesamt bedeutet, beschreibt ein empfehlenswerter Bildband zur Kulturgeschichte des Zirkus. Sylke Kirschnick ist die Einmaligkeit der zirzensischen Sendung von „Sarrasani“ eines von acht Kapiteln wert. Die kenntnisreiche Monographie von Ernst Günther „Sarrasani – wie er wirklich war“ ist seit Jahren vergriffen.

Die neue Show ist noch bis 16. Februar 2014 in Dresden im Sarrasani Trocadero Dinner-Variétheater, Straßburger Platz, von Mittwoch bis Sonntag jeweils um 19.30 Uhr zu erleben. Sonntags lädt Sarrasani zusätzlich von 11 bis 14 Uhr zum Familienbrunch. Eintrittskarten zur Dinnershow mit Vier-Gang-Menü sind ab 69 Euro erhältlich. Für den Familienbrunch zahlen Erwachsene ab 46 Euro und Kinder ab 25 Euro. Kartentelefon: 03 51 / 6 46 50 56

www.sarrasani.de

Sylke Kirschnick: Manege frei! Die Kulturgeschichte des Zirkus. Theiss, Stuttgart 2012, 192 Seiten, gebunden, zahlreiche Abbildungen, 39,95 Euro

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