© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  03/14 / 10. Januar 2014

Pankraz,
der Tempoforscher und die Akzeleristen

Den einen geht alles zu schnell, den anderen zu langsam. Dementsprechend gibt es in der Wissenschaft mittlerweile einerseits Entschleunigungsspezialisten, andererseits Beschleunigungsstrategen, sogenannte „Akzeleristen“. Aber wo bleiben die Tempoforscher? Wer kümmert sich um das wirklich richtige Tempo in den jeweiligen Lebenslagen? Wann erfahren wir einzelnen Genaueres über das uns angemessene Tempo?

Am meisten gehört wurden bisher die Entschleuniger. Sten Nadolnys ebenso spektakulärer wie gelassener Roman „Die Entdeckung der Langsamkeit“ von 1983 fand nicht nur viele entzückte Leser, sondern löste damals auch ein breites Echo in der Wissenschaft aus, bei Soziologen, Physiologen und Psychologen. Es setzte ein allgemeines Lob der Langsamkeit ein. Zahlreiche Vorgänge in der von Technik und Digitalität geprägten Moderne, so das verbreitete Urteil vor allem älterer Diskursteilnehmer, störten das gute Zusammenleben von Gesellschaften; man sollte etwas dagegen tun.

Der „Zeitdiagnostiker“ Hartmut Rosa von der Universität Jena lieferte in seinem englisch geschriebenen Buch „Beschleunigung und Entfremdung“ (deutsche Übersetzung bei Suhrkamp, Berlin 2013) laut Untertitel gleich einen kompletten „Entwurf einer kritischen Theorie spätmoderner Zeitlichkeit“, in dem es um nichts anderes ging als um einen Aufruf zur Entschleunigung technischer und sozialer Vorgänge. Wahrscheinlich war es speziell dieser ambitiöse, bombastische Untertitel, der nun auch die Gegenseite, also die Akzeleristen oder Akzelerationisten, die Beschleuniger, auf den Plan rief.

In einem Bändchen des Merve-Verlags (Berlin 2013) brachten sie ein „akzeleristisches Manifest“ heraus, anschließend gab es zum Jahresende am Berliner Alexanderplatz einen „akzeleristischen Kongreß“ und eine „akzeleristische Ausstellung“, in der man unter anderem sehen konnte, wie Science-fiction-Romane von vor 2007 in einem Plexiglasbehälter geschreddert wurden. Wider Erwarten waren es aber nicht irgendwelche überzeugten Beschleuniger aus Industriekreisen, die das Ganze veranstalteten, sondern einige Kapitalismuskritiker aus linken Kreisen.

Es war kurios. Gegen den Kapitalismus, so der Tenor des Manifests, helfe keine linke Kritik oder Sabotagepolitik inklusive Entschleunigungsmaßnahmen, sondern man müsse den Kapitalismus in seinen ureigenen Abläufen und aus seiner eigenen Logik heraus mit allen Mitteln beschleunigen, beschleunigen und nochmals beschleunigen. Nur so könnten sich seine Widersprüche bis zur Unerträglichkeit anschärfen, nur so könne es zu jener gewaltigen Katastrophe kommen, die viele Linke so sehr herbeisehnen und von der sie sich gewaltige neue Horizonte erhoffen.

Beschleunigung, so weiter das akzeleristische Manifest, biete auch für die tapferen Kämpfer gegen den Kapitalismus selbst blendende Chancen. Sie brauchten sich nun nicht mehr mit der Erfindung und Durchführung antikapitalistischer Maßnahmen abzuquälen, sondern könnten dank ihres überlegenen Wissens ganz gemütlich die Vorteile einer innerkapitalistisch privilegierten Existenz genießen – und dabei ein völlig gutes Gewissen behalten, denn sie trügen ja just dadurch zur baldigen Heraufkunft der Katastrophe bei! Auf so etwas muß man erst einmal kommen.

Freilich, bei Lichte betrachtet ist solcher Akzelerationismus gar nicht so neu, bringt er doch lediglich das, was schon lange passiert, auf den Begriff. „Links reden, rechts leben“: das ist schon seit langen (oder war vielleicht schon immer) die Devise führender Linksaktivisten. Auch die Kader der verflossenen bolschewikischen Nomenklatura in Moskau samt ihrer Ostberliner Ableger lebten ungeniert nach diesem Prinzip. Nur wollten sie, im Gegensatz zu den heutigen Akzelerationisten, nichts mehr beschleunigen. Profiteure heraufkommender Katastrophen mochten sie denn doch nicht sein.

Sie hatten wohl auch eine Ahnung davon, daß der Rhythmus der lebendigen Natur und damit auch der des menschlichen Zusammenlebens gar nicht säuberlich in Beschleunigung und Entschleunigung eingeteilt werden kann, daß es sich bei ihnen um innerseelische Vorstellungen handelt, die mit der realen Zeit nur wenig zu tun haben. Dem einen dehnen sich, je nach Lebensalter, Temperament oder konkreter Erwartungshaltung, Minuten zur Ewigkeit, dem anderen vergeht die Zeit „wie im Fluge“, und kein künstlicher Entschleunigungstrick kann ihn davor bewahren.

Was die Realvorgänge in der Natur betrifft, so gibt es dort, würde Pankraz behaupten, kein festes Schema von Beschleunigung und Entschleunigung, sondern eher einen Rhythmus aus Stille und Plötzlichkeit, wo Epochen der Ruhe und der scheinbaren Untätigkeit plötzlich abgelöst werden können (und offenbar müssen) von

schier rasenden Entwicklungssprüngen, mit Geschwindigkeiten, die jedes kulturell-menschliche Vorankommen in den Schatten stellen. Nur die Begrenztheit des eigenen Lebens verwehrt uns den Blick auf diese gewaltigen Zeitsprünge und ihre Folgen.

Gewiß ist auch der vielberedete Beschleunigungsdruck, den die moderne kulturelle Technik angeblich auslöst, weitgehend ein Produkt der Einbildung und des individuellen Lebensgefühls. Es handelt sich wohl um ein Generationenproblem: Den im zwanzigsten Jahrhundert geborenen Generationen wurde ganz offensichtlich zuviel Wechsel zugemutet, zu viele Neuigkeiten, zu viele neue soziale und mediale Herausforderungen, die man bewältigen und an deren Modelle man sich gewöhnen mußte.

Objektive, scharfsichtige und strikt überparteiliche Tempoforscher hätten wohl helfen können. Schade, daß es noch keinen Extra-Studiengang für sie gibt und wir uns mit allzu ehrgeizigen Zeitdiagnostikern zufriedengeben mußten. Und nun kommen erst einmal die Akzelerationisten. Wenigstens hat man ihretwegen jetzt etwas mehr zum Lachen. Doch es wäre gut, wenn sie ihre eigene Katastrophe etwas mehr beschleunigen würden.

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