© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  02/14 / 03. Januar 2014

Keine Angst vor der schimmernden Wehr
Das Wettrüsten der Flotte führte nicht zum unüberbrückbaren Gegensatz zwischen Großbritannien und Deutschland
Peter Michael Seidel

Der deutsche Flottenbau vor dem Ersten Weltkrieg gilt als ein entscheidender Faktor für die Gegnerschaft Englands und seinen Beitritt zur französisch-russischen Entente. Sogar Churchill und Hitler stimmten später darin weitgehend überein. War die deutsche Flottenrüstung also einer der Gründe für den Krieg? War sie überflüssig, eine „Luxusflotte“, wie Churchill meinte?

Auch diesen Konsens stellt nicht zuletzt Christopher Clark in seinem neuen Werk „Die Schlafwandler“ in Frage. „Im Jahr 1913 verzichtete die deutsche Seekriegsleitung offiziell und unilateral auf ein weiteres britisch-deutsches (!) Wettrüsten, indem Tirpitz erklärte, er gebe sich mit den von Großbritannien geforderten Mengenverhältnissen (bei Großkampfschiffen) zufrieden. Bis 1914 bauten die Briten ihre Führung wiederum aus“, während der deutsche Flottenausbau nun selbst hinter den der USA und Rußlands zurückfiel. Das internationale Wettrüsten zur See wurde somit ein Jahr vor dem Krieg von deutscher Seite abgebrochen. Hundert Jahre später stellt sich damit die Frage neu, was damals Ursache und was Symp-tom der Entfremdung zwischen beiden Ländern war.

Als entscheidend für die Beurteilung der kaiserlichen Hochseeflotte erwiesen sich schon bald vor allem zwei Faktoren: die Geographie und damit verbunden das seestrategische Denken. Weder war die kaiserliche Marine stark genug für eine Entscheidungsschlacht in der offenen Nordsee, noch hatte sie – was sich für das Deutsche Reich im Krieg als als fatal erweisen sollte – eine britische Blockade am Kanal und zwischen Schottland und der norwegischen Küste gefährden können. Einzige Ausnahme und aus deutscher Sicht am vorteilhaftesten wäre der direkte Angriff der Briten unweit der deutschen Küsten gewesen. Diesen Gefallen tat die Royal Fleet den Deutschen jedoch nicht. Und damit war der Seekrieg des Ersten Weltkriegs im Grunde entschieden. Dies zeigte auch die Seeschlacht vor dem Skagerack 1916. Aus diesem Dilemma fand die Marine dann nur einen scheinbaren Ausweg: den verhängnisvollen unbeschränkten U-Bootkrieg, der zum entscheidenden Kriegseintritt der USA in der Endphase des Krieges führte.

Erstaunlich ist, daß die deutsche Marine für ihre strategische Lage keine realistische Konzeption entwickelte. Dies hatte viele Gründe. Tirpitz und das Reichsmarineamt waren vor allem Organisatoren des Schiffbaus, dem Kaiser als selbsternanntem „Admiral des Atlantik“ ging es um die Strahlkraft seiner „schimmernden Wehr“. Die verschiedenen Reichskanzler, die Seekriegsleitung und die Admiralität zeigten in ihren Ressortkämpfen mehr Ratlosigkeit als konzeptionelle Führung.

Dennoch gab es Versuche, aus der konzeptionellen Sackgasse herauszukommen, auf die der Marinehistoriker Wulf Diercks schon Mitte der achtziger Jahre hingewiesen hat. Die Strategie ist allerdings fast ausschließlich mit dem Namen des Befehlshabers der Aufklärungsstreitkräfte und auf deutscher Seite wohl einzigem Chef mit operativer Begabung, Franz Hipper, verbunden. Vermutlich auf Initiative seines Ersten Admiralsstabsoffiziers, des späteren Großadmirals der Kriegsmarine im Zweiten Weltkrieg, Erich Raeder, schlug Hipper bereits im November 1914 zum Handelskrieg im Westatlantik den Einsatz des Schlachtkreuzerverbandes vor, der sich mit dem deutschen ostasiatischen Kreuzergeschwader unter Graf Spee vereinigen und nicht nur die unzureichend geschützten britischen Seeverbindungen bedrohen, sondern auch die indirekte Schwächung der in der Nordsee konzentrierten britischen Flotte erreichen sollte.

Diercks dazu: „Der zur Bekämpfung seiner Schlachtkreuzer notwendige Abzug gleichstarker, wenn nicht überlegener schwerer Einheiten des Gegners aus der Nordsee hätte Ende 1914 den ersehnten Kräfteausgleich, vielleicht sogar eine leichte zahlenmäßige Überlegenheit der Hochseeflotte bewirken können. Hippers unkonventionelle Vorschläge trafen jedoch auf die Ablehnung seiner Vorgesetzten.“ Doch selbst der glückliche Ausgang solcher Unternehmungen hätte bestenfalls das Kräfteverhältnis zur See geändert, nicht jedoch die geographischen Bedingungen zwischen Deutschland und Großbritannien. Und dies bedeutet: Die Hochseeflotte konnte Großbritannien aktiv niemals existentiell gefährden.

Also doch eine eindeutige Fehlbilanz der Flotte auf deutscher Seite? Nicht ganz: Die Marine war immerhin stark genug, einen Einbruch der Briten in die Ostsee, die Unterbrechung der lebenswichtigen deutschen Eisenerzeinfuhren aus Schweden, einen Zusammenschluß mit der russischen Ostseeflotte und die Öffnung des Seeweges nach Rußland zu unterbinden. Entsprechende Pläne wurden von den Briten klugerweise immer wieder verworfen, da sie zu den von deutscher Seite erhofften Seeschlachten vor den deutschen Flottenstützpunkten führen mußten. Zusammen mit der Sperrung der türkischen Dardanellen und der dortigen Abwehr alliierter Öffnungsversuche war Rußland damit weitestgehend von alliierten Hilfsleistungen abgeschnitten.

Die innenpolitische Bilanz des zwischen 1900 und 1913 forcierten Flottenbaus ist durch Meuterei und Revolution in Deutschland eindeutig negativ. Aber das gilt für das ganze politische System, insbesondere das Führungssystem im kaiserlichen Deutschland, und ist keineswegs ein Spezifikum der Marine. Bleibt die außenpolitische Bilanz. Hier liefert Clark Ansätze, wie seine Beurteilung der Haldane-Mission nach Berlin 1912 zeigt, die oft als letzter Versuch einer Verständigung zwischen Großbritannien und dem Kaiserreich angesehen wird: „ Nicht die Zahl der Schiffe als solche verhinderte ein Abkommen, sondern die Unversöhnlichkeit der von beiden Seiten wahrgenommenen Interessen.“

Daß aber auf dem Feld der imperialen Politik der Gegensatz zwischen Großbritannien und dem Deutschen Reich überbrückbar war, bewiesen die bis ins Kriegsjahr 1914 laufenden Verhandlungen eines neuen Kolonialabkommens. Daß es zum Abschluß nicht mehr kam, dafür sorgten schließlich die Schüsse von Sarajevo.

Foto: Linienschiffe der Kaiserlichen Marine an ihren Liegeplätzen in Kiel: Die deutsche Hochseeflotte konnte Großbritannien aktiv niemals existentiell gefährden

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