© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  02/14 / 03. Januar 2014

JF-Serie über historische Bild-Legenden (Teil VIII und Ende): Vor Gericht
Das erfundene Tribunal
Hans Becker von Sothen

Das Tribunal auf dem Bild hat es nie gegeben. Es war eine Wunschvorstellung einiger Alliierter. Es zeigt Kaiser Wilhelm II. mit seinem Sohn, dem Kronprinzen Wilhelm und den österreichischen Kaiser Karl I. Vorn stehend Ludendorff, neben ihm sitzend Hindenburg. Angebliche Kriegsverbrechen, wie etwa das deutsche Todesurteil gegen den britischen Kapitän eines Handelsschiffs, der völkerrechtswidrig versucht hatte, ein deutsches U-Boot zu rammen, trugen bereits früh dazu bei, das Klima zu vergiften. Obwohl das Verhalten des britischen Kapitäns, eines Zivilisten, damals als Kriegsverbrechen gelten mußte, ließ der britische Premier Herbert Asquith der deutschen Reichsregierung ausrichten, man werde später dafür Genugtuung fordern.

Die Zeit dafür schien gekommen, als einen Monat nach Kriegsende in England Parlamentswahlen stattfanden und der britische Premier Lloyd George während des Wahlkampfs gefordert hatte, Kaiser Wilhelm II. durch ein alliiertes Kriegsgericht hängen zu lassen. Die neutralen Niederländer, bei denen der Kaiser Asyl erhalten hatte, weigerten sich freilich, ihn an die Alliierten auszuliefern. Einen Siegerprozeß wie 1946 in Nürnberg gab es nicht, weil selbst die ohnmächtige deutsche Reichsregierung darauf bestand, eventuelle Kriegsverbrechen selbst untersuchen zu lassen. Die daraufhin von Franzosen und Belgiern auf eigene Faust anberaumten Kriegsverbrecherprozesse gerieten zur Farce. In diesem Zusammenhang steht auch unser Bild. Es ist das Zeichen tiefen Hasses und Mißtrauens, das kennzeichnend für die gesamte Zwischenkriegszeit war.

Hans Becker von Sothen: Bild-Legenden. Fotos machen Politik. Fälschungen, Fakes, Manipulationen. Ares Verlag, Graz 2013, gebunden, 272 Seiten, Abbildungen, 19,90 Euro

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