© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  51/13 / 13. Dezember 2013

Ein Instrument der Charakterwäsche
Volkspädagogik: In der Kontroverse um Theodor Eschenburg offenbart sich das entwaffnende Selbstverständnis der deutschen Politikwissenschaft
Thorsten Hinz

Die Deutsche Vereinigung für Politische Wissenschaft (DVPW) hat am 26. Oktober beschlossen, ihren nach Theodor Eschenburg (1904–1999) benannten Preis nicht mehr zu verleihen. Er war seit 2003 dreijährlich für ein wissenschaftliches Lebenswerk vergeben worden. Zur Begründung heißt es, Eschenburgs „Rolle während der NS-Zeit und sein späterer Umgang damit“ seien „umstritten“.

Obwohl der Beschluß ganz dem Zeitgeist entspricht, hat er heftige Gegenwehr ausgelöst. Die frühere Präsidentin Christine Landfried hat den Verein im Zorn verlassen, nicht ohne ihrem Fach eine „hochgradige Irrelevanz (...) für die politische Praxis“ zu attestieren. Offenbar geht der Konflikt über den aktuellen Anlaß hinaus und reicht tiefer, als den Protagonisten überhaupt bewußt ist.

Eschenburg gilt als Nestor der Politikwissenschaft in Deutschland. Er wurde als „Lehrer der Demokratie“ gerühmt, als „Wächter der Verfassung“ und „Praeceptor Germaniae“. Er hat Begriffe wie „Kanzlerdemokratie“, „Ämterpatronage“, „Gefälligkeits-“ und „Verbändestaat“ geprägt. Wir sind also Zeugen eines Vatermords (JF 38/13).

Mit Eschenburgs „Rolle während der NS-Zeit“ ist zweierlei gemeint: zum einen die kurzzeitige Mitgliedschaft in der Motor-SS sowie sein Anteil am Arisierungsverfahren gegen einen jüdischen Fabrikanten. Der erste Punkt betrifft ein Ausweichverhalten, das unter Diktaturen üblich ist. Eschenburg war einer relativ unpolitischen Organisation beigetreten, um sich die Mitgliedschaft etwa in der NSDAP zu ersparen. Und die Arisierung erfolgte nach dem November-Pogrom 1938, als es nur noch um das Wie, nicht mehr um das Ob der Enteignung ging. Eschenburgs Anteil als externer Berater bildet einen häßlichen Fleck in seiner Vita, doch einen aktiven Part hat er nicht gespielt.

An die breite Öffentlichkeit drang der Konflikt durch den Politikwissenschaftler Claus Offe, den Eschenburg-Preisträger von 2012. Der Habermas-Schüler trug in seiner Dankrede scharfe Angriffe gegen den Namenspatron vor. Interessanterweise bezogen sie sich kaum auf die NS-Zeit. Offe konzedierte, daß Akten stets nur einen Teil der Wahrheit enthalten. Dafür bezweifelte er den wissenschaftlichen Gehalt von Eschenburgs Werk. Es handele sich um eine „gleichsam ‘institutionenpflegerische’ politische Publizistik, die auf Schritt und Tritt, fallbezogen und theoriefern, die Achtung staatlicher Autorität volkspädagogisch anmahnt“.

Nachkriegsimport aus den USA

Da blitzte noch einmal der Konflikt zwischen den Staatsrechtslehrern alter Schule und den neomarxistischen 68ern auf, die alle Institutionen und Autoritäten „kommunikativ verflüssigen“ wollten. Sie waren darin erfolgreich, doch die Ergebnisse sprechen gegen sie. Man darf Offe zugute halten, daß er seine prinzipielle mit einer aktuellen Kritik an der selbstherrlichen EU-Bürokratie verband.

Dann kam er auf die Persönlichkeit Eschenburgs zu sprechen. Die Vorbildfunktion sei weniger durch sein Verhalten in der NS-Zeit beschädigt, sondern dadurch, daß er sich „auch in seinem später entstandenen umfangreichen Memoirenwerk nie zu einer ernsthaften sozialwissenschaftlichen und/oder moralischen Beschäftigung mit seinem eigenen damaligen Handeln und dessen Umständen“ durchgerungen habe. Er habe sie beschönigt, verharmlost, gerechtfertigt. Dabei hätte sein anerkannter Status es ihm erlaubt, „explizit und ungeschönt“ darüber zu schreiben.

Hätte Eschenburg das tatsächlich gekonnt? Hier liegt der Kernkonflikt, den weder seine Kritiker noch Verteidiger thematisieren. Die Politikwissenschaft war ein Nachkriegsimport aus den USA, sie wurde mit einem massiven finanziellen, organisatorischen und personellen Aufwand implementiert. Eschenburg gehörte zu den Nutznießern. 1952 wurde er, ohne eine Habilitation vorweisen zu können, zum ersten Ordinarius für Politikwissenschaft an der Universität Tübingen berufen.

Die Politikwissenschaft will politische Prozesse erforschen. In der Bundesrepublik aber wurde sie als „Demokratiewissenschaft“ eingeführt, die dazu beitragen sollte, angebliche Demokratie-Defizite an den Universitäten, in der Politik und Gesellschaft zu beheben. Als institutionalisierte Gesellschaftskritik war sie ein Instrument zur „Charakterwäsche“ der Deutschen und hatte nach Caspar von Schrenck-Notzing den Zweck, „in die bestehende deutsche Gesellschaft Männer, Institutionen und Ideen einzubauen, die die Ziele der Militärregierung verwirklichen würden“. Die Rücknahme des wissenschaftlichen Anspruchs zugunsten der volkspädagogischen Absicht, die Offe an Eschenburg kritisiert, hat hier ihren Ursprung.

Zur Volkspädagogik gehörte die Ignoranz gegenüber der Grundtatsache, daß Deutschland nach 1945 ein besiegtes, mehrfach geteiltes und fremdbestimmtes Land war. Deutschland kam, wie Ernst Nolte 1974 feststellte, in der Politikwissenschaft überhaupt nicht vor. Sie beschränkte sich auf die Bundesrepublik. Wie der Teufel das Weihwasser vermied sie es, das Ausmaß der deutschen Niederlage und die verbliebenen Chancen zu analysieren. Ihre Konzentration auf den Demokratie- und individuellen Freiheitsbegriff mußte die Situation des Landes verfehlen, das keine „unbestrittene, identische Subjektivität von Staatlichkeit“ (Hans-Joachim Arndt, „Die Besiegten von 1945“) mehr besaß.

Das gilt bis heute. Die NSA-Affäre demonstriert, daß der deutsche Staat sogar auf dem eigenen Territorium außerstande ist, seine Bürger vor dem Zugriff fremder Mächte zu schützen. Das Schweigen der Kanzlerin ist ein beredter Ausdruck der politischen, moralischen und intellektuellen Entwaffnung Deutschlands.

Auch die Politikwissenschaft ist sprachlos, was nur logisch ist. Schließlich hat sie viel zu der Entwaffnung beigetragen. Ihr Auftrag bestand und besteht darin, die nach 1945 von den westlichen Siegern definierte politische Norm als eine moralische und intellektuelle durchzusetzen.

Erst vor diesem Hintergrund läßt sich sinnvoll über Eschenburgs Wirken und Unterlassen nach 1945 reden. Er hat dieses Geschäft aktiv mitbetrieben. Das war der Preis für seine Karriere. Als junger Mann war er Mitarbeiter von Außenminister Gustav Stresemann gewesen. Man darf ihm eine beträchtliche politische Urteilskraft unterstellen und gleichzeitig eine enorme intellektuelle Biegsamkeit. Als 1960 ein Bundesminister die deutsche Alleinschuld am Zweiten Weltkrieg bezweifelte, kanzelte ihn Eschenburg in der Wochenzeitung Die Zeit ab: „Bei der Frage nach der Schuld am Zweiten Weltkrieg, die wissenschaftlich sehr schnell und eindeutig beantwortet ist, handelt es sich nicht etwa um eine fachhistorische Angelegenheit. Die Erkenntnis von der unbestrittenen und alleinigen Schuld Hitlers ist vielmehr eine Grundlage der Politik der Bundesrepublik.“

Enthistorisierung des Dritten Reiches

Brutal und bündig brachte er die Macht- und Unterstellungsverhältnisse und sein daraus abgeleitetes Verständnis von Wissenschaftlichkeit auf den Punkt! Die deutsche Politikwissenschaft hatte sich darauf zu beschränken, der amtierenden Macht zu bestätigen, daß sie im Recht sei. Sie war eine pure Legitimationswissenschaft. In funktionaler Hinsicht ähnelte sie dem Marxismus-Leninismus und dem „Wissenschaftlichen Sozialismus“, die an den DDR-Universitäten gelehrt wurden und dem SED-Staat zur geschichtsphilosophischen Legitimation verhelfen sollten.

Die stillschweigende Voraussetzung war und ist die Enthistorisierung und Entkontextualisierung des Dritten Reiches und seine Dämonisierung zu einem absolut und grundlos Bösen. Auch dem Eschenburg-Kritiker Offe geht es nicht um das Begreifen der real- und außenpolitischen Zusammenhänge und Konstellation der Zeit, sondern um ihre „sozialwissenschaftliche und/oder moralische“ Aburteilung. Indem Eschenburg der NS-zentrierten Geschichtsmetaphysik Vorschub leistete, begab er sich in eine Falle, denn im Rahmen einer Dämonologie konnte er die persönlichen Erfahrungen nicht angemessen mitteilen. Die Metaphysik zu verwerfen aber konnte er sich erst recht nicht leisten.

Zu diesem Konflikt, an dem er scheiterte, haben weder seine Kritiker noch seine Verteidiger etwas mitzuteilen. So ist die Eschenburg-Affäre ein weiterer Beleg für das Scheitern und die „hochgradige Irrelevanz“ eines ganzen Wissenschaftszweiges.

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