© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  51/13 / 13. Dezember 2013

Die Geister der Vergangenheit
Lob der Sekundärtugenden: Die tschechische Graphic-Novel „Alois Nebel“ thematisiert die Vertreibung der Deutschen aus dem Sudetenland
Sebastian Hennig

Die Filmhandlung beginnt im Herbst des Jahres 1989 in einem Provinzbahnhof im sudetendeutschen Altvatergebirge und könnte zunächst ebensogut 1889 spielen. Alois Nebel (Miroslav Krobot) ist hier Fahrdienstleiter, wie vor ihm bereits sein Vater. Er ist gewissenhaft, behutsam und ausgeglichen. Doch im hereinbrechenden Winter verfolgen ihn wie immer, wenn er in alten Fahrplanbüchern blättert und die deutschen Stationsnamen in seinem Inneren widerklingen, die Geister der nach dem Zweiten Weltkrieg aus dem Sudetenland vertriebenen Deutschen.

Inzwischen kann eine Generation junger Tschechen ganz unbefangenen von der Verstrickung ihrer Väter in Verbrechen auf die jüngere Vergangenheit des Landes schauen. Aus solcher Betrachtung sind kraftvolle Bilder hervorgegangen. Wen wundert’s, wenn die Blickweise gelegentlich das Melodramatische oder auch das Frivole streift, wie beispielsweise in der wüsten Romanphantasie „Die Teufelswerkstatt“ (2010) des tschechischen Schriftstellers Jáchym Topol.

Aufgrund seiner gemäßigten Form wird nun der Animationsfilm „Alois Nebel“ von Trickfilmregisseur Tomas Lunak eher geeignet sein, ein breiteres Publikum auf diesen Abschnitt der jüngeren Geschichte hinzuweisen. Verfilmt wurde hier eine als Bildgeschichte gezeichnete Novelle von Jaromír Švejdík.

Dem Fahrdienstleiter Alois Nebel zur Seite steht ein übles Subjekt. Weichensteller Wachek (Leos Noha) lebt ganz in der unordentlichen Gegenwart, für die er keinen anderen Plan als die kurzfristige Vorteilsnahme kennt. Er ist in Schiebereien mit den russischen Besatzern verwickelt. Auf dem Lagerplatz, den sein Vater (Alois Svehlik) leitet, stapelt er die erschacherten Güter.

Wegweiser aus dem Blutstrudel der Geschichte

Details sind wichtig in dem Film. Nebel dreht stets im Vorübergehen den tropfenden Wasserhahn über dem öffentlichen Ausguß zu. Auch im strömenden Regen steht er ungerührt mit der Kelle auf dem Bahnsteig, um den Triebwagen abzufertigen. Als er später degradiert wird, zieht er als Streckenläufer die Schrauben nach.

Der Film wirkt perfekt. Nach einer Weile erkennt man jedoch, daß er vor allem inspiriert ist. Die Spuren der Vergangenheit wurden im Nachbarland nicht so zügig abgeräumt wie in Deutschland. Signale aus „Kakanien“, nach Robert Musils „Mann ohne Eigenschaften“ „der Staat, der sich selbst irgendwie nur noch mitmachte“, finden sich noch neben kommunistischen Relikten. Nicht anders in der Psyche der Menschen. Das Vorgefundene wird im Film gewissenhaft in Szene gesetzt, und so können die Dinge selbst eine Geschichte erzählen, die Geschichte Mitteleuropas. In den Gegenständen spiegelt sich das Geschehen. So schüttet Nebel der Stationskatze aus der Flasche immer frische Milch in einen Teller neben der Tür. Als es zur Festnahme des Stummen kommt, wird der Milchnapf in der Rangelei umgeschüttet. Die Vertreibung der Deutschen kehrt wieder in der Vertreibung Nebels aus seiner Arbeitsstelle und Dienstwohnung durch Wachek.

Erst diese Wendung trägt dann wirklich apokalyptische Züge. Doch wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch. Im Verborgenen vollzieht sich der Abgang der real-existierenden Unordnung. Der Film ist ein Wegweiser zum Austritt aus dem Blutstrudel der Geschichte und ein Hohelied auf die Sekundärtugenden. Der Eisenbahner Nebel und die Toilettenfrau Kveta (Marie Ludvikova) werden zu einer Art Philemon und Baucis. Ihre Kapelle ist der Prager Hauptbahnhof. Der ist zweigeteilt in die Traumkulisse des Jugendstilarchitekten Josef Fanta, deren vegetabile Ornamente wie eine Fata Morgana in die sterile Moderne der achtziger Jahre hineinreichen.

Der kommunistische Putsch von 1948 und die russische Intervention zwanzig Jahre danach inspirierten den Tschechen, eine kreative Distanz zur eigenen Geschichte einzunehmen. In Deutschland ist ein solches Innewerden der kulturellen Okkupation bis zuletzt nur im russisch dominierten Teil wach geblieben. Die Angebote zur Kollaboration mit dem westlichen Sieger erschienen dagegen so korrumpierend vorteilhaft, daß wir gerade erst in einen langsamen Ablösungsprozeß treten.

Der Erlöser fällt mit starker Axt das Gesindel

Unterdessen sind wir eingeladen, von der Freizügigkeit der Nachbarn mitzuzehren, denn die Geschichte von „Alois Nebel“ ist unsere gemeinsame. Ein jahrhundertelanges Miteinander von Deutschen und Tschechen in Böhmen wird hier geradezu familiär betont in der mütterlichen Beziehung der Dorothe (Tereza Voriskova) zum kleinen Alois, der später zum heimlichen Bruder ihres Rächer-Sohnes wird.

Verblüffend in der Wirkung ist das Verfahren der Rotoskopie. Hier wird das Melodramatische eines Realfilms durch die zeichnerische Stilisierung abgemildert, und die Rasanz der Animation findet sich aufgehoben in der natürlichen Anmut menschlicher Bewegungen der Schauspieler. Mit dem in solchen Zusammenhängen beschworenen Film Noir hat „Alois Nebel“ nicht mehr gemeinsam als das Schwarzweiß und die düstere Ausleuchtung der Szenen. Die Schwarzfilme der dreißiger bis fünfziger Jahre walzen das Unerfreuliche als Daseinsprinzip aus. Der Film noir singt das Wiegenlied der Angsthypnose, mit der nach 1945 den Gebildeten unter den Massen die Unveränderbarkeit der Verhältnisse imaginiert wird. Die existentialistische Misanthropie jener Filme ist hier nicht zu finden.

Alois Nebel schaut immer wieder in einen Korridor aus Licht. An dessen Ende steht Dorothe, wie eine Königin. Zuletzt hält diese heilige Jungfrau, welche auch durch die Schändung nicht entweiht wurde, den Erlöser auf dem Arm, den sie geboren hat. Einen Erlöser, der nicht am Marterkreuz zu Tode gefoltert wird, sondern mit starker Axt das Gesindel fällt. Er richtet den Schuft, der ihn gewaltsam zeugte und ihn bereits erwartet hat: „Mein Sohn, ich wußte, daß du kommen wirst.“

Unterdessen schwillt der Dauerregen zu einer Flut, die dröhnend durch die Wälder bricht. Während in Weißbach scharfes Gericht gehalten wird, treffen Alois und Kveta in der schäbigen Hütte eines Streckenläufers in wortloser Zuwendung zusammen. In den überlagernden Wellen von Geschichte und Naturgewalt ergibt sich die Ruhe, in der die zwei Menschen miteinander sind.

Deportation: Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden Millionen Deutsche aus dem Sudetenland vertrieben

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