© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  51/13 / 13. Dezember 2013

Der katholische Atheist
Grenzgänger zwischen Philosophie und Dichtung: Vor 150 Jahren wurde der spanische Schriftsteller George Santayana geboren
Felix Dirsch

George Santayana (eigentlich Jorge Augustín Nicolás Ruiz de Santayana y Borrás) gilt im heutigen Deutschland als Mann, aus dessen umfangreichem Œuvre nur noch ein Zitat bekannt ist. Dieses wird aber um so öfter traktiert: „Wer die Vergangenheit nicht kennt, ist dazu verurteilt, sie zu wiederholen.“

Abgesehen davon, daß jedes historische Ereignis singulär ist, hat die alte Vorstellung von der Geschichte als Lehrerin des Lebens längst ausgedient. Nur noch mit Bezug auf die Bewältigung des Nationalsozialismus wird ihr hierzulande ein Körnchen Wahrheit eingeräumt – und das natürlich nicht ohne erheblichen moralistischen Unterton. Santayana gebraucht sein berühmtes Zitat jedoch ohne eine derartige Färbung. Für ihn gibt es Fortschritt nur im Bewußtsein des Vergangenen, das die Folie für Veränderungen darstellt.

Santayana ist das – damals eher seltene – Exemplar eines Weltenbummlers. In Spanien geboren, übersiedelt er in frühen Lebensjahren in die USA. Im dortigen Universitätsleben, in dem er nie richtig heimisch wird, reüssiert er schnell. Als Schüler des berühmten Pragmatisten William James erhält er eine Professur für Philosophie. Er widmet sich vornehmlich ästhetischen, erkenntnistheoretischen, ontologischen und kulturkritischen Fragestellungen. Bald tritt er auch als Lyriker und Romancier hervor.

Als Anfangsvierziger publiziert er sein philosophisches Hauptwerk „Das Leben der Vernunft oder die Phasen menschlichen Fortschritts“. Als Platoniker nimmt Santayana Wesenheiten an, die unabhängig von ihrer konkreten Verwirklichung existieren. Trotz dieser hohen Wertschätzung des Geistigen vertritt er lebenslang eine naturalistische Sichtweise der Dinge. Die Interpreten haben häufig darauf hingewiesen, daß er diese Kluft nie zu überwinden in der Lage ist.

Das Ziel diverser Schriften besteht darin, den Sinn der Kunst darin zu erkennen, daß sie das Dasein überwölbt und so die Rolle einnimmt, die früher die Religion erfüllte. Kurz vor seinem fünfzigsten Geburtstag verläßt er die Vereinigten Staaten für immer. Er verbringt einige Jahre in Frankreich. Sein Leben beschließt er 1952 im römischen Ospedale Britannico.

Die mitunter eigenartige Verschränkung von Religion, Dichtung und Philosophie ist ein Wesenszug des Werkes von Santayana. Seine Einstellung zur Religion gibt Rätsel auf. Andeutungen belegen, daß er sich früh vom christlichen Glauben löst. Dennoch bewahrt er sich lebenslang die Hochschätzung vor der katholischen Geisteswelt. Man kann ihn einen Kulturkatholiken nennen, etwa wie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts den Gründer der Bewegung „Action française“ Charles Maurras („Ich bin Katholik, aber ich bin Atheist“) oder in der unmittelbaren Gegenwart den Mediävisten Kurt Flasch, der unlängst ein Buch mit dem Titel „Warum ich kein Christ bin“ vorgelegt hat (JF/13). Von Studenten wird Santayana der Satz in den Mund gelegt: „Gott existiert nicht. Seine Mutter ist die heilige Jungfrau Maria“.

Gegenstand vieler Diskussionen wird Santayanas Roman „Der letzte Puritaner. Die Geschichte eines tragischen Lebens“. Er thematisiert die großen Umbruchprozesse im vermeintlichen Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts wandeln sich bis dahin maßgebliche Werte spürbar. Der Titelheld Oliver Alden personifiziert den Niedergang seines Landes. Die puritanische Prägung macht es großen Teilen der Bevölkerung unmöglich, die Veränderungen, die das neue Zeitalter mit sich bringt, mitzugestalten. Gegen eine solche Perspektive läßt sich einiges einwenden: Sie ist eindeutig zu pessimistisch und vernachlässigt den Aufstieg der USA zur neuen Großmacht, der schon weit vor dem Ersten Weltkrieg einsetzt.

Santayanas Liberalismuskritik ist in etlichen seiner Darstellungen präsent. Er gibt sich weniger als Demokrat denn als Aristokrat, weniger als Romantiker denn als Anhänger des klassischen Geistes. An einer charakteristischen Stelle im „Leben der Vernunft“ heißt es, das „Leben des Geistes“ sei „ein Ererbtes und existiert nur durch die Tradition“. Revolutionen seien, wenn überhaupt, nur dann akzeptabel, wenn sie zu einer neuen sinngebenden Ordnung oder Form führten.

Die (ohnehin spärliche) deutschsprachige Sekundärliteratur neigt dazu, die Leistungen Santayanas im Hinblick auf die Formung der amerikanischen Philosophie zu unterschätzen. Eine Ausnahme stellt eine frühe Veröffentlichung Eric Voegelins dar, die die Verbindungen der großen amerikanischen Denker Peirce, James und Santayana herausarbeitet und die ihre Gemeinsamkeiten an den Begriffen der reinen Erfahrung und der Essenz festmacht.

Der hundertfünfzigste Geburtstag des „Literary Philosophers“ könnte ein Anlaß für eine intensivere Aufarbeitung seiner Schriften auch in Deutschland sein.

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