© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  51/13 / 13. Dezember 2013

Pankraz,
J.M. Underhill und die ratlosen Akten

Endlich mal wirft das geballte Reden über die NSA-Affäre auch ein bißchen Komik ab. Ob die Geschichte aber stimmt? Sie steht in der neuen Dezember-Ausgabe des alten, 1857 von den legendären Literaten Longfellow und Emerson in Boston gegründeten Atlantic Monthly, das heute nur noch höchstens zehnmal im Jahr erscheint und deshalb schlicht The Atlantic heißt. Nach wie vor jedoch steht das Magazin im Ruf, einem „eher europäischen“ Kulturbegriff zu huldigen und gern deftig-hintergründige Scherze über US-Verhältnisse zu machen.

Diesmal berichtet ein Herr Andy Martin von jüngst freigegebenen FBI- und CIA-Akten aus den Jahren nach 1945, als Jean-Paul Sartre und Albert Camus sich in Paris regelmäßig über ihren Existentialismus stritten. Die US-Geheimdienstler wollten herauskriegen, ob es sich bei den beiden um verkappte Kommunisten bzw. Nationalsozialisten handelte, sie meldeten sich „undervover“ als Seminar-teilnehmer an und hielten die Ohren stets scharf gespitzt, verstanden freilich trotzdem immer nur Bahnhof. Das liest sich, wie gesagt, recht komisch, ist aber auch irgendwie lehrreich.

Eine Differenz zwischen den Leuten vom Inlandsgeheimdienst FBI und denen vom Auslandsgeheimdienst CIA wird erkennbar. Die FBIer neigen dazu, alles, was sie zu hören kriegen, für baren Unsinn zu halten, und ziehen drollige Parallelen zu ihrer eigenen beruflichen Befindlichkeit. „Der Erzählkunst, der Philosophie und der Spionage“, so liest man in einem ihrer altklugen Spitzelberichte an die Zentrale, „ist ein gemeinsamer Ursprung eigen: sie entstehen aus einem Mangel an Informationen (…) Der Existentialismus und die Idee des Absurden markieren eine Asymmetrie zwischen dem Sein und der Information.“

Anders die CIAler. Sie halten das, was sie zu hören bekommen, für einen „Code“, für einen raffinierten „Double Speak“, hinter dem sich „kommunistische Basistexte“ verbergen. Einer der Schnüffler namens James M. Underhill ist besonders von Camus beeindruckt, weil der sich in den Diskussionen immer wieder schlau jeder Konkretheit entziehe (Camus würde sich wohl sehr wundern). Underhills Resümee für die Zentrale lautet jedenfalls: „Die Akte kommt zu keinem endgültigen Beschluß.“

„Double Speak“ oder bloßer Unsinn, raffinierter Code oder bedauerlicher Informationsmangel – so also sahen Geheimdienstler vor sechzig Jahren die „Erzählkunst“ und die Philosophie inklusive ihrer eigenen Tätigkeit, wobei leider nicht klar wird, ob sie diese als eine Spezialabteilung von Erzählkunst und Philosophie betrachteten oder umgekehrt als das „Eigentliche“. Pankraz vermutet letzteres. Ganz oben standen für sie zweifellos Schnüffelei und Geheimnistuerei; Literatur und Philosophie waren da gewißlich nur zweitrangige Ableitungen, die man glatt vernachlässigen konnte.

Die heutigen digitalen Schnüffelmethoden, Big Data und komplette Datenspeicherung von jedem Erdenbewohner, der so oder so an das Netz angeschlossen ist, scheinen ihnen sogar recht zu geben. Für gegenwärtige Geheimagenten ist ein jahrtausendealter professioneller Wunschtraum in Erfüllung gegangen: Sie wissen nun wirklich alles und können es jederzeit abrufen. Was braucht es da noch Erzählung oder Philosophie? Das sind doch Genres, die gänzlich auf einem Mangel an Informationen beruhen! Über sie kann man doch nur noch mitleidig lächeln.

In der Perspektive von Literatur und Philosophie sieht die Sache freilich etwas anders aus. Gewiß, auch Poeten und Philosophen sind geborene Schnüffler und Geheimnisträger. Sie enthüllen und verbergen, sie sind begierig auf Informationen wie auf Geheimnisstiftung. Während aber die „Kollegen“ von NSA & Co. einen ganz banalen, rein instrumentellen Begriff von Information und Geheimnis mit sich herumtragen, sind die Dichter & Denker gewissermaßen die Ästheten des Datensammelns und der Geheimnisstiftung.

Geheimagenten sind simple Instrumente von Machtausübung. Literaten, die ernst genommen werden wollen und sich selber ernst nehmen, sind Hüter des machtfreien Wissens und Sprechens – und damit Hüter des Geheimnisses. Die Asymmetrie zwischen dem Sein und der Information bereitet ihnen keinen Kummer, sondern Genugtuung. Das in instrumentelles Wissen verwandelte Geheimnis, das die NSA-Agenten so begeistert, interessiert sie überhaupt nicht. Sie brechen ihrerseits stattdessen zur Stiftung immer neuer Geheimnisse auf. Daß es Geheimnisse gibt, ist ihre Lust und Genugtuung.

Was wäre denn die Welt ohne Geheimnisse? Sie wäre ein öder Kasernenhof, wo immer nur nach vorgegebenen Mustern exerziert werden kann. Ein Leben ohne Geheimnisse ist gar keines mehr, ganz abgesehen davon, daß die großen, sogenannten letzten Fragen des Seins durch keinerlei Information abgedeckt, allenfalls durch poetische Sprache erahnbar gemacht werden können. Wir wissen, trotz aller modernen Aufklärung, nicht, was die Welt im Innersten zusammenhält, und wir wissen nicht, was Leben eigentlich ist. Um mit ihm zurechtzukommen, brauchen wir weder FBI- noch CIA-Agenten, wohl aber Erzähler.

Aber auch was die weniger umfänglichen, was die nicht unbedingt letzten, sondern nur vorletzten oder vorvorletzten Fragen betrifft: Muß denn wirklich jedes Geheimnis erschnüffelt und ordnungsgemäß abgeheftet werden? Schon Nietzsche hat sich diese Frage gestellt, und er weigerte sich voller Leidenschaft, sie positiv zu beantworten. Seine „gaya scienza“, also die „fröhliche“, zu Poesie und Philosophie vorgetriebene Wissenschaft, hatte Wichtigeres zu tun, als alles und jedes auszuspähen, es zu betatschen und zu zerlegen und danach in Akten zu verewigen.

Gibt es nicht eine ganze Menge Dinge, zum Beispiel intime Leibesverrichtungen, wo wir es nicht einmal gern hätten, wenn der liebe Gott dabei zusähe? Digitale Geheimagenten sollen auf jeden Fall die Finger davon lassen.

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