© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  51/13 / 13. Dezember 2013

Drehen an der Eskalationsspirale
China: Scheibchenweise versucht Peking den strategischen Durchbruch im Westpazifik / USA und Japan in Alarmbereitschaft
Albrecht Rothacher

Wie immer, wenn China überraschend zuschlägt, sind Ort und Zeitpunkt gut gewählt. Vor 14 Tagen dekretierte es unangekündigt eine 950 Kilometer breite „Luftverteidigungsidentifikationszone“, die sich weit in den Pazifik, einschließlich Teilen des japanischen und koreanischen Luftraums, sowie jenem über den seit 1885 japanischen, neuerdings aber von China beanspruchten Senkaku-Inseln, erstreckt.

Durchfliegende Flugzeuge müssen ihren Flugplan ab sofort vorab in Peking melden, sonst riskieren sie zur Landung gezwungen oder abgeschossen zu werden. Dies erfuhr 1983 der KAL-Flug 007 im sowjetischen Luftraum mit 269 Toten. Die chinesischen Staatsmedien vermeldeten, die Maßnahme sei ausschließlich gegen den Erzfeind Japan gerichtet.

Peking setzt auf interventionsmüde USA

Der offensive Schritt soll offenkundig die an Wachstumsschmerzen leidenden 1,3 Milliarden Chinesen einen und die Macht von Präsident Xi gegen seine innerparteilichen Reformfeinde stärken. Wird der Luftraum über den Senkaku chinesisch kontrolliert, so kann China international leicht eine effektive Kontrolle der unbewohnten Felseninseln darstellen. Dann hätte die US-Verteidigungsgarantie für die umstrittenen Felsen keine rechtliche Grundlage mehr. Japan stünde in der Frage der Inseln dann allein der Atommacht China gegenüber.

Tatsächlich richtet sich der chinesische Vorstoß aber nur vordergründig gegen Japan, das befürchtet, die chinesischen Ansprüche auf die Senkaku könnten, wie von einigen chinesischen „Experten“ gefordert, eines Tages auf die ganze Präfektur Okinawa, die bis 1875 das unabhängige Königreich der Ryukyu war, mit ihren 1,3 Millionen Einwohnern ausgedehnt werden.

Mittelfristig wollen die Chinesen mit ihrer rapide wachsenden Hochseemarine den aus ihrer Sicht seit 1945 amerikanisch beherrschten Einkreisungsring der Inselgruppen im Westpazifik sprengen.

Präsident Xi meinte zu Obama bei ihrer ersten Begegnung in diesem Jahr, der Pazifik sei groß genug für zwei Großmächte. Das haben die Amerikaner, seitdem sie Ende des 19. Jahrhunderts die Philippinen eroberten und Hawaii und Guam annektierten, immer anders gesehen.

Doch die chinesische Führung glaubt, die nach ihren verunglückten Kriegen im Irak und in Afghanistan interventionsmüden Amerikaner würden keine Soldaten wegen kahler Meeresfelsen opfern. Die Reaktionen des innenpolitisch schwer angeschlagenen Obama auf die Syrien- und Iranprobleme werden im machtpolitisch denkenden Peking als Schwäche ausgelegt.

So erschien die Gelegenheit günstig, an den beiden schwächsten Stellen der Inselkette vorzustoßen: vor Okinawa den Luftraum massiv auszuweiten und den militärisch irrelevanten Philippinen die Scarborough Shoals, im Südchinesischen Meer gelegene strategisch wichtige Sandbänke, abzunehmen.

Auch dies geschah, wie immer, scheibchenweise: Zuerst wurden Fischerboote dorthin geschickt, dann Forschungsschiffe, und schließlich die Marine, um chinesische Staatsbürger und ihr Eigentum zu schützen. Keiner der Einzelschritte war ein richtiger Kriegsgrund. Doch das Ergebnis ist eine gewaltige strategische Erweiterung der chinesischen Seegrenzen durch eine einseitig und gewaltsam durchgesetzte faktische Kontrolle des Territoriums.

In Falle der Senkaku und der neuen Luftverteidigungszone stießen die Chinesen auf massive japanische und koreanische Proteste. US-Verteidigungsminister Chuck Hagel nannte ihren Vorstoß „einseitig“ und „destabilisierend“ und schickte sofort aus Guam zwei atomwaffenfähige B-52-Stratofortress-Bomber in den umstrittenen Luftraum, um zu dokumentieren, daß das US-Militär sich um die Zone nicht scheren würde. Auch die Japaner setzen weiter ihre Luftpatrouillen mit F-15-Kampffliegern rund um die Uhr über den Senkaku fort.

Säbelrasseln soll Hardliner beruhigen

Derweil schickten die Chinesen ihrerseits zwischenzeitlich Jagdflieger und Aufklärer in ihren neuen Luftraum. Es kann also heiter werden. Mit den überlappenden Luftverteidigungszonen steigt das Risiko zufälliger oder beabsichtigter Konfrontationen, Abstürze oder Abschüsse gewaltig. Chinesische Abfangjäger gehen oft sehr aggressiv vor und nähern sich bis auf drei Meter. Im Jahr 2001 stürzte einer, der sich als Rammjäger fühlte, beim Zusammenstoß mit einem US Aufklärer vor Hainan ab.

In der Vorwoche unternahm US Vizepräsident Joe Biden einen Besuch in der Krisenregion, um in Tokio und Seoul die Gemüter zu beruhigen und Beistand zu versprechen und um in Peking auf Deeskalation zu drängen. Zur Enttäuschung der Japaner forderte er jedoch nicht die Rücknahme der chinesischen Luftraumerweiterung. Auch wiesen die Amerikaner ihre Fluglinien an, sich an die chinesischen Meldepflichten zu halten. Die Japaner hatten ihren Linien JAL und ANA befohlen, diese zu ignorieren. Fünfzig ihrer Flüge finden täglich durch den umstrittenen Luftraum nach Taiwan, Hongkong und Südostasien statt. Bidens Unterredung mit Präsident Xi dauerte außergewöhnliche fünfeinhalb Stunden lang. Danach sah man einen ungewöhnlich niedergeschlagenen Vizepräsidenten. Xi war keinen Millimeter zurückgewichen.

Eine Weile noch werden die Chinesen ohne Reaktion dem amerikanisch-japanischen Treiben in „ihrer“ Flugzone zuschauen, die Verletzungen ihres Luftraumes sorgsam zählen und es bei Protesten belassen. Nach jener Demonstration ihrer langmütigen Geduld werden sie, wie üblich, die Daumenschrauben anziehen und Gewalt androhen, um schließlich, von der eigenen gewalttätigen Rhetorik gefangen, sie tatsächlich einzusetzen. In diesem Fall müßten die Amerikaner, um bei ihren ost- und südostasiatischen Bundesgenossen glaubwürdig zu bleiben und den Pazifik als Einflußzone zu erhalten, doch ihren Verteidigungspflichten nachkommen.

An ihrer strategischen Überlegenheit kann trotz der massiven chinesischen Aufrüstung kein Zweifel bestehen. Die chinesische Führung hatte früher stets betont, man habe aus dem Schicksal des kaiserlichen Deutschland, das von einer Viererkoalition etablierter Großmächte in die Knie gezwungen wurde, gelernt. Auch Japan hatte seinen gewaltsamen Versuch von 1941, die amerikanische Hegemonie im Pazifik zu brechen, teuer bezahlen müssen.

Diese Lektionen hat Xi als der neue starke Mann Chinas scheinbar verdrängt. Ein bewaffneter, außer Kontrolle geratener Konflikt zwischen den drei größten Wirtschaftsmächten der Welt, ausgelöst von durchgeknallten Kampffliegern über öden Felseninseln, wäre für das 10.000 Kilometer entfernte, zunächst einmal unbeteiligte Europa sowie für den Rest der Welt angesichts der gegenseitigen Finanz-, Markt- und Lieferverflechtungen sofort natürlich auch eine massive wirtschaftliche Katastrophe.

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