© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  50/13 / 06. Dezember 2013

Der Eiserne Vorhang an March und Thaya
Stefan Karner öffnet tschechoslowakische Geheimdienstakten und beleuchtet Tod und Verderben an der Grenze zu Österreich
Rainer Liesing

Daß die in Jalta 1945 besiegelte Teilung Europas nicht nur die Spaltung Deutschlands zur Folge hatte, sondern daß der Eiserne Vorhang auch in anderen Teilen Mitteleuropas aufgezogen ward, ist wenig ins kollektive Gedächtnis eingedrungen. Und immer weniger erinnert daran, denn seit bald einem Vierteljahrhundert ist der Eiserne Vorhang, der Europa mehr als vier Jahrzehnte teilte, Geschichte. Stacheldraht, Minengürtel und Grenzbefestigungen sind entfernt. Auch an Thaya und March, zwei kleineren Grenzflüssen zwischen Österreich und der damaligen Tschechoslowakei.

Dort spielten sich menschliche Tragödien ab, die denen an der innerdeutschen Grenze kaum nachstanden. Das geht aus dem Buch des Grazer Historikers und Leiters des Ludwig Boltz-mann-Instituts für Kriegsfolgen-Forschung, Stefan Karner, hervor. Anhand von bisher unter Verschluß gehaltenen tschechoslowakischen Geheimakten beleuchtet Karner die Situation an der 453 Kilometer langen Trennlinie bis Mitte der 1950er Jahre. Insgesamt 129 Menschen starben bei Fluchtversuchen an der Grenze zu Nieder-, Oberösterreich und dem Burgenland. Sie wurden von tschechoslowakischen Grenzsoldaten erschossen oder von Hunden zerrissen. Zahlreiche Grenzsoldaten sind bei Unfällen am „eigenen Stacheldraht“ getötet worden oder begingen Selbstmord.

Selbst wenn es Tschechen oder Slowaken auf der Flucht über die beinah unüberwindliche Grenze schafften, mußten sie bis Mitte der fünfziger Jahre auch auf österreichischem Territorium Verfolgung, Verrat und Verhaftung fürchten. Auf beiden Seiten der Sicherungsanlagen waren zahlreiche Agenten und Spione „zur Abwehr des kapitalistischen Feindes“ unterwegs. Auch übergaben Österreicher, die sich, aus welchen Gründen auch immer, den Diensten verdingt hatten – der östliche Teil des Landes war bis 1955 sowjetische Besatzungszone –, Geflüchtete, derer sie habhaft wurden, den sowjetischen Besatzern, deren Geheimdienste eng mit den tschechoslowakischen zusammenarbeiteten. In der Tschechoslowakei drohten den ausgelieferten Flüchtlingen dann hohe Haftstrafen und Geldbußen. Die an der Grenze Getöteten wurden in ausdrücklich ungekennzeichneten Gruben verscharrt, um eine Erinnerung an sie möglichst zu unterbinden.

Anhand zahlreicher Fallbeispiele dokumentiert Karner anschaulich die Lage an der Grenze im ersten Jahrzehnt nach dem Zweiten Weltkrieg. Er rekonstruiert die Schicksale von Flüchtlingen – deren Motivation, der Tschechoslowakei zu entkommen, durchaus nicht einheitlich war –, auf der Grundlage unterschiedlicher Quellen. Dabei stellt er Protokolle sowie höchstwahrscheinlich geschönte offizielle Berichte der Grenzwachen Zeugenaussagen gegenüber. Exemplarisch durchleuchtet der Historiker die jeweilige Rolle von tschechoslowakischer Staatssicherheit (ŠtB) und sowjetischem Geheimdienst NKWD (später MWD) sowie der Spezialtruppe „Smersch“ (Akronym für „Tod den Spionen“) bis 1953/54, dann des KGB, auf beiden Seiten der Grenze.

Karner zufolge gehörten die tschechoslowakischen geheimdienstlichen Aktivitäten unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkriegs zu den umfangreichsten aller osteuropäischen Nachrichtendienste. Sie reichten von Aufklärung und Propaganda bis hin zu gezielten Entführungen und kriminellen Aktivitäten. Im Nachlaß des ŠtB finden sich Personalakten von mehr als 12.000 Österreichern, die entweder observiert wurden, auch oft selbst mit der tschechoslowakischen Staatssicherheit in irgendeiner Form zusammenarbeiteten oder aus unterschiedlichsten Gründen für Prag interessant erschienen. Die Rekrutierung lief über finanzielle Anreize, meist war indes gezielte Erpressung im Spiel. Eine ideologische Motivation gab es laut Karner in den seltensten Fällen.

Karners Buch ist sozusagen ein erstes greifbares Ergebnis der Zusammenarbeit seines Boltzmann-Instituts mit den tschechischen und slowakischen Geheimdienst-Archiven, die, wie der Historiker darlegt, „einen erstaunlich breiten Zugang zu ihren Beständen ermöglichen“. Und es sei ein erster Schritt auf dem Weg zur gänzlichen Aufarbeitung des Wirkens kommunistischer Dienste in Österreich. Wozu neben ungarischen Diensten (zivilen und militärischen), jugoslawischer UDBA auch – und vor allem – die DDR-Stasi gehören sollte. Diese trieb, wie die mehrmalige Anwesenheit Markus Wolfs in Wien und spätere Enthüllungen über die „Rote Fini“ (Rudolfine Steindling) und ihre Stasi-Firma Novum belegen, auch in der Alpenrepublik ihr Unwesen.

Stefan Karner: Halt! Tragödien am Eisernen Vorhang. Die Verschlußakten. Ecowin Verlag, Salzburg 2013, gebunden, 213 Seiten, Abbildungen, 21,90 Euro

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