© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  50/13 / 06. Dezember 2013

Ein stiller Nervenkrieg der Emotionen
Mehr als Zeitvertreib: Nach dem WM-Sieg eines jungen Norwegers richtet sich die Aufmerksamkeit verstärkt auf den Schachsport
Heino Bosselmann

Die Schach-Gemeinde sieht einen neuen Star geboren, einen jungen Mann, eigentlich physiognomisch einen Jungen, der die verhirnten alten Herren, die früheren kalten Krieger am Brett und all die genialen und bizarren Käuze ablöst, für die schon der jetzige Schachweltverband-Vorsitzende Kirsan Iljumschinow ein Beispiel ist. Das ehemalige Staatsoberhaupt wollte in seiner Heimat Kalmückien eine Schach-Stadt errichten, spielte während des Libyen-Krieges gegen Gadaffi und sah sich schon mal von Aliens entführt. Immerhin: Bobby Fischer träumte sich auch einen Schachturm als Haus.

Wie erfrischend dagegen dieser Magnus Carlsen – frei von Marotten und Allüren, gewitzt, lässig, gern mal hingelümmelt. Am 30. November 1990 im norwegischen Tønsberg geboren, brach er bereits mit dreizehn den Elo-Rekord, jene Zahl, nach der sich die Spielstärke mißt. Er spricht vom Schachspiel als dem „Kampf der Ideen“. Das Publikum wünscht sich einen Helden, der aufs Ganze geht und es den bislang Etablierten zeigt. Es liebt – wie immer und überall – die Jugend, das Neue und sehr Besondere. Jetzt endlich, heißt es, gewänne das uralte Spiel neue Popularität. Vielleicht gerade bei uns, denn dieser sympathische Norweger ist nachkriegsgeschichtlich überhaupt der erste Weltmeister aus Westeuropa.

Vollzieht man die zehnte Partie der kürzlich beendeten Schachweltmeisterschaft zwischen Magnus Carlsen und dem bis dahin amtierenden Weltmeister Viswanathan Anand nach, erkennt man – mindestens mit der Hilfe von Sachverständigen – die Vielzahl der Möglichkeiten eines Remis. Das hätte für den letzten noch erforderten Halbpunkt ausgereicht, aber der junge Norweger setzte final auf Sieg.

Beide Gegner begannen mit Tempo. Der Norweger mit Weiß verhinderte, daß der Inder Druck aufbauen konnte. Mit der sizilianischen Verteidigung ging der die Partie zwar offensiv an, Carlsen baute aber mit der Rossolimo-Variante vor. Er ließ sogar einen Fehler des Gegners ungenutzt und versäumte im 30. Zug eine starke Springer-Aktion. Der Inder entlastete sich durch Figurentäusche. Nach vier Stunden und fünfundvierzig Minuten war das Brett abgeräumt, Carlsens letzter Bauer geschlagen, ein Sieg in dieser Partie ausgeschlossen.

Was für ein Showdown: Nur noch die beiden Könige schritten über das Brett, begleitet von einem schwarzen Springer, der freilich nicht mehr matt setzen konnte. Remis, insgesamt aber ein 6,5:3,5-Sieg, der 16. Weltmeister gekürt, nach Garri Kasparow – bei seinem Sieg 1985 ebenfalls 22 Jahre alt – der jüngste aller Zeiten, mit dem klarsten Resultat der letzten hundert Jahre Schachgeschichte. Drei Partien hatte er gewonnen, die fünfte, sechste und neunte, während Anand sich bei keiner durchsetzen konnte. Schon seit vier Jahren führte der Junge aus dem Norden die Weltrangliste an, mit so hohen Wertungszahlen wie niemand zuvor.

Den meisten gilt Schach als Spiel zum Zeitvertreib, andere betreiben es ambitioniert als Sport. Dem Deutschen Schachbund gehören rund 93.000 Mitglieder in etwa 2.700 Vereinen an; es gibt eine Nationalmannschaft, Ligen und Meisterschaften auf allen Ebenen. Diesen Sport kann man trainieren – die Eröffnungen ebenso wie die Verteidigungen und Varianten des Mittelspiels sowie die Rasanz des Endspiels, den feindlichen König einzukreisen und festzusetzen.

Aber im Kosmos der klaren Regeln und Standards erweist sich schnell der Unterschied zwischen Talent und Klasse. Die Tiefe des Spiels, die Unzahl der möglichen Konstellationen und deren jähe Wendungen faszinieren. Eine Strategie aufzuspüren und zu verwirklichen, die tatsächlich das andere Heer bezwingt, das begeistert.

Es gibt zwischen Gleichrangigen die Möglichkeiten des Remis und der Pattsituation, aber der Kämpfer meidet sie. Während Arme und Beine in diesem Gefecht weitgehend Ruhe haben, feuern die Neuronen im Kortex um so mehr. Nicht umsonst wird Schach mit Boxen verglichen – zwei Gegner, konzentrierte Schläge, Sieg oder Niederlage, als rein geistiger Erfolg oder Versagen, begleitet vom stillen Nervenkrieg der Emotionen.

Das Duell ist von so besonderer Dramatik, weil die Ausgangsbedingungen für die Gegner genau dieselben sind. Hier mischt kein Glück die Karten, hier geht es nicht um Gewicht oder die Reichweite der Schläge, hier haben beide die gleichen Figuren auf dem Brett; es gibt nur einen einzigen Unterschied: Weiß beginnt.

Martin Breutigam, Internationaler Meister und Schach-Journalist, erinnert der Stil Carlsens an „eine Renaissance vordigitaler Zeiten“. In dessen Vorbereitung stecke „mehr Geist als Computerwissen“. Er gewinne sogar mit recht einfachen Eröffnungen und habe es nicht nötig, alle möglichen Verläufe zu analysieren, sondern bestehe unmittelbar am Brett, indem er beeindruckend effizient durchspiele. Vielleicht liegt ja ein Vorteil in dieser Distanz zum rein technischen Exerzitium des Spiels, vielleicht schlägt die Intuition tatsächlich die Schulung. – Mozart und Salieri?

Stefan Löffler, „Schachwelt“-Blog, meint indessen, Carlsen bevorzuge gerade „ein überraschend trockenes, technisches Schach“. Damit habe er am meisten Erfolg, und spannende Partien seien im südindischen Chennai selten gewesen: „So richtig brannte das Brett nur in der neunten Partie“, schreibt Löffler in der FAZ: „Alle Figuren Carlsens außer seiner Bauern standen auf der eigenen Grundreihe. Sein einziger Trumpf war ein vorgerückter Bauer. Dieser reichte, um Anand den Ehrentreffer zu verwehren.“ Erfolg kann eben so schlicht wie elegant und somit durchaus ästhetisch sein. Nicht nur im Schach, sondern ebenso im Leben, das dieses Spiel auf reduzierte Weise symbolisiert.

Carlsen wirkt stets nicht nur gelassen, sondern betont entspannt. Die Medien präsentieren ihn als Wunderkind und Teenie-Star. Die Zeit mahnt schon an, sein Management müsse jetzt über die „globale Marktführung“ des Idols nachdenken, damit er mehr werde „als ein Norweger, von denen es nur fünf Millionen gibt“. Die Welt ist nicht genug! Alles, auch ein brillanter Schachspieler, muß verwertet werden.

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