© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  50/13 / 06. Dezember 2013

GegenAufklärung
Kolumne
Karlheinz Weissmann

In bezug auf das Politische: Wer die Suppe einbrockt, muß sie gemeinhin nicht auslöffeln.

Wenn die Ausstellung zur Kulturgeschichte des Pfarrhauses im Deutschen Historischen Museum den typologischen Wandel des evangelischen Geistlichen vor Augen führt – vom gestrengen Hirten der Herde zum zerquälten Existentialisten zum politischen Marschierer zum üppig behaarten Allesversteher zum Gemeindemanager –, dann fehlt doch eine Sorte, deren Auftreten man neuerdings beobachten kann: der irritierend gutaussehende, glatte, rhetorisch geschickte, stets die Witterung aufnehmende Vertreter dieser Spezies. Man weiß nicht recht, was ihn in den kirchlichen Dienst gelockt hat, Frömmigkeit war es kaum, familiäre Vorbelastung ist die Ausnahme, die Verehrungsbereitschaft der Kanzelschwalben kommt auch nicht in Frage. Sollten es die Verheißungen von Sinekuren oder der Macht sein, die einmal besaß, wer „das Wort“ hatte, oder die Möglichkeit, den kleidsamen clergy man zu tragen, den deutsche Pastoren neuerdings so gerne aus dem Schrank holen, anglikanischem Vorbild folgend?

Willy Brandt, 100. Geburtstag I: Brandt gehört wie Kennedy und Martin Luther King zu jenen politischen Ikonen des 20. Jahrhunderts, denen keine Entlarvung etwas anhat. Daran ändert auch der Hinweis auf ihre notorische Untreue nichts, vielleicht erklärt die sogar die bleibende Anziehungskraft dieser Maskulinen auf die Masse, die feminine.

Wenig ist so entlarvend wie die Sprachmarotte, locker und betont gelangweilt „keine Ahnung“ einzustreuen.

Wenn der Volkstrauertag noch zu etwas dient, dann, die Seichtigkeit evangelischer Theologie unter Beweis zu stellen. Zwar hat man sich abgewöhnt, den Gefallenen ins Grab zu spucken, dafür wird der Hörer jetzt mit Erwägungen behelligt, die die Sinnlosigkeit von Leid und Tod in einer Weise betonen, die mit der christlichen Überlieferung schlechthin unvereinbar ist.

Früher hätte man mit gutem Grund annehmen dürfen, daß Wissenschaft – strenge Wissenschaft jedenfalls, wenigstens die den Orchideenfächern zugeordnete – mit Weltläufigkeit unvereinbar ist. Heute muß man darauf gefaßt sein, daß einer nicht nur über Papyri des hellenistischen Ägypten Bescheid weiß, sondern auch noch smart daherkommt, und eine sich mit dem Fertigen ritueller Schurze aus Palmblättern irgendwo in der Südsee auskennt und gleichzeitig Lidstrich wie Mascara perfekt setzen kann.

Die Tendenz der Koalitionsvereinbarungen ist leicht zu erklären: Die SPD-Führung muß Rücksicht auf die Überzeugungen ihrer Mitglieder nehmen, die CDU-Führung nicht.

Bildungsbericht in loser Folge XLVI: Der Focus hat 33 Leitsätze zur richtigen Erziehung veröffentlicht, deren Spektrum von der Notwendigkeit des Paukens und des Einschleifens von Manieren bis zur unumgänglichen Vermittlung biblischer Geschichten geradezu erschütternd richtig ist. Selbstverständlich steckt dahinter kein Pädagoge, nur elterliche Praxis und gesunder Menschenverstand.

Post-Literalität kommt als Begriff sacht in Umlauf, was nur zu verständlich ist. Und das nicht nur wegen des offensichtlichen Scheiterns aller Volksbildung, sondern weil sich so eine Möglichkeit bietet, den neuen Analphabetismus zu interpretieren: die Rückkehr der Masse auf den Status gewitzter Kinder oder Bauernschlauer, dazu eine Kaste von Brahmanen, die die rätselhaften Zeichen immer noch lesen und die alten Texte auslegen kann, und schließlich die paar Techniker, die die Chose am Laufen halten.

Die aus dem Dunkel des Behördenapparats aufgetauchte „Hauptstelle für das Befragungswesen“ beunruhigt durch ihre Bezeichnung, die man schwer ironisch nehmen kann, eher als Indiz Orwellscher Absichten.

Willy Brandt, 100. Geburtstag II: Es gibt selbstverständlich Gründe, an der politischen Klarsicht Brandts zu zweifeln, aber manchmal gelang ihm doch ein erstaunlich sicherer Griff: „Das sozialistische Element im Nationalsozialismus, das Denken seiner Gefolgsleute, das subjektiv Revolutionäre an der Basis, muß von uns erkannt werden. Es stellt eine Voraussetzung der richtigen Arbeit dar. Ich bin gar nicht der Meinung, daß man sagen kann, diese Elemente im Nationalsozialismus seien ‘nur zum Betrug der Arbeiter erfunden’. Es ist vielmehr so, daß der Nationalsozialismus mit seiner Ideologie ein Sammelsurium darstellt und daß er es verstanden hat, sich in breiten Massen lebendige sozialistische Wünsche, revolutionäres Wollen nutzbar zu machen.“ („Sozialistische Front der jungen Generation“, 1937)

Die nächste „Gegenaufklärung“ des Historikers Karlheinz Weißmann erscheint am 20. Dezember in der JF-Ausgabe 52/13.

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