© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  50/13 / 06. Dezember 2013

Ein unerschrockener Kerl
Er kämpfte auf verlorenem Posten: Zum Tode des Verlegers und Bildungsbürgers Wolf Jobst Siedler
Eberhard Straub

Victrix causa diis placuit sed victa Catoni“, die siegreiche Sache gefällt den Göttern, dem Cato aber die besiegte. Mit diesem Vers würdigte Lukan den Gegner Cäsars und letzten Römer. Wolf Jobst Siedler, der jetzt im Alter von 87 Jahren gestorben ist, war ein Besiegter: als Preuße, als Berliner und als Bildungsbürger.

Das machte ihn nicht mutlos. Ganz im Gegenteil. Das Bewußtsein, besiegt zu sein, bewahrte ihn vor Illusionen und erlaubte ihm eine abwartende Haltung beim allgemeinen Aufbruch in die allerneueste Neuzeit nach 1949. Die Unbefangenheit und Anmut, mit der er nach ihrem Untergang für den Staat, die Stadt und die soziale Schicht seiner Herkunft als ganz persönliche Bildungsmächte stritt, imponierte sogar den Eingeborenen von Trizonesien, den späteren Westdeutschen. Sie erkannten darin etwas, was sie nicht hatten, und wonach sie sich insgeheim sehnten, nämlich Stil.

Also ließen sie Wolf Jobst Siedler in Ruhe, der viel zu höflich war, sie als Journalist und Feuilletonchef des Tagesspiegels ab 1956 in ihrer Betriebsamkeit zu stören. Von Berlin aus beobachtet er leicht amüsiert die Nervositäten beim Umbau Restdeutschlands zu Westdeutschland als schöner neuen Welt, aus der nun endgültig die Ungeister vertrieben werden sollten, die Schrecken und Unheil über Deutschland gebracht hätten, nämlich Preußen, Berlin und die bürgerlich-humanistische Bildung.

Für die Westdeutschen lag schon um 1950 Berlin sehr weit weg von Bonn als praktischer Gegebenheit und geistigem Zustand. Die Berliner sprachen von „drüben“, wenn sie an den seltsamen Rheinbund dachten, der sich dort entwickelte. Siedler zog nichts an den Rhein und dessen Lieblichkeiten. Als Bürger seiner Stadt sah er seine nächstliegende Aufgabe darin, beim Wiederaufbau Berlins im umfassenden Sinne mitzuwirken, also daß die Stadt wieder zu ihrer Urbanität zurückfände und wieder ein Ort der Lebenskultur und Lebensfreude würde.

Bürger meinte in Preußen zuerst einmal den Bürger, der sich verantwortlich fühlt für seine Stadt. Die große Zeit Preußens war eine Zeit der Bürgermeister und der Honoratioren, die danach strebten, im kommunalen Wettbewerb ihrer Stadt einen hervorragenden Platz zu sichern. Berlin hatte alle Städte übertrumpft. Nicht nur weil es die preußische und nebenher, bis 1914 gar nicht besonders auffällig, auch die Hauptstadt des Deutschen Reiches war. Es lag vor allem an dem verwegenen Völkchen, wie Goethe die ihm unheimlichen Berliner ein wenig verängstigt nannte. Sich neben Berlin behaupten zu können, spornte alle größeren Städte dazu an, nicht in Selbstgenügsamkeit zu versinken. Insofern war Berlin für das übrige Deutschland eine Herausforderung.

Siedler wollte, daß Berlin wieder zum geschmacklichen Richter würde. Die Landeshauptstädte in der Bundesrepublik unternahmen manche Anstrengungen, „kulturelles Leben“ zu organisieren, doch keiner gelang es, zum prägenden Mittelpunkt zu werden, auf den jeder zu achten hatte. Darin witterte Siedler die große Chance für Berlin.

Denn ohne Berlin blieb Westdeutschland Provinz, wo man, wie Gottfried Benn spottete, im Namen des Abendlandes die Sorgen in ein Gläschen Wein schüttete und die Geschichte endlich in einem Land des Lächelns zu beruhigen hoffte.

Im Berliner Gottfried Benn erkannte der Berliner Wolf Jobst Siedler den großen Anreger, um Berliner ununterbrochen zu reizen, ihrem eigenen Anspruch zu genügen, unruhig zu bleiben und nicht vor der Macht der Moden und der Schlagworte zu verzagen.

Siedler führte seinen Kampf gegen die Banalisierung Berlins. Er konnte ihn nicht gewinnen. Daran zweifelte er nie. Aber es gelang ihm, den Verfall Berlins zumindest aufzuhalten.

Siedler und ein paar weitere ehrgeizige Berliner überforderten die Möglichkeiten der geschundenen Stadt. Es gab zwei Berlin, zwei Kulturen ohne Hinterland. Ost-Berlin blutete aus, solange der Weg nach West-Berlin offenstand und damit der Weg in den Westen. Den schlugen immer mehr Berliner auch in der „Frontstadt“ ein, die keine Zukunft mehr für sich und für die Stadt sahen. Ein Hinterland besaßen beide Berlin nicht mehr, seit Schlesien, Pommern, Ostpreußen, auch das Baltikum als unerschöpfliches Reservoir zur substantiellen Erneuerung wegfielen. Berlin zog immer, wie Siedler wußte, neue Kraft aus dem Osten, es gehörte zum weiten diffusen Osten. Von dem war es nun abgeschnitten.

Jetzt begann eine Revolution für Berlin: die Verwestlichung. Aus dem einen Teil wurde wirklich Westberlin, eine völlig neue Stadt, die sich Westdeutsche nach ihren Vorstellungen entwarfen. Ost-Berlin hielt krampfhaft am Gestus der Hauptstadt fest, aber auch dort fehlten die Hauptstädter. Das klassische Berlin wanderte seit 1900 vom Norden und Osten nach Westen und Süden. In Berlin wurde, damals, wie Siedler analysierte, eine Westbewegung eingeleitet, die ganz unfreiwillig zur Verwestlichung paßte, wie sie seit 1945 Teile des ehemaligen Deutschland und nach 1989 des ehemaligen Osteuropa ergriff. Keiner will mehr im „Osten“ sein.

Der Umzug der Hauptstadt von Bonn nach Berlin besiegelte deshalb für ihn das Ende Berlins. Deutschland will nur noch Westdeutschland sein, Europa nur noch Westeuropa. Unter solchen Voraussetzungen muß Berlin zu Westberlin werden, wenn es nur noch den Westen gibt. Das hatte Siedler immer zu verhindern gesucht. Auch als Verleger, erst bei Propyläen und ab 1980 mit dem eigenen Verlag.

Mit den Büchern zur Geschichte der Deutschen mitten in Europa – und nahezu alle von ihm verlegten Bücher haben damit zu tun – wollte er die Westdeutschen daran erinnern, nicht westlich, sondern gesamteuropäisch ihre Vergangenheit zu bedenken. Der Preuße und Berliner Siedler begriff doch seine kleinere Welt im dauernden Austausch mit Österreich-Ungarn und Rußland. Er erinnerte erfolglos diese seltsamen Westdeutschen daran, einmal Mitteleuropäer und Vermittler gewesen zu sein. Deshalb versuchte er als Essayist und Verleger die europäische Dimension Berlins und Preußens gerade jenen verständlich zu machen, denen indessen auch Europa zu eng geworden war und die in einer atlantischen westlichen Wertegemeinschaft ihre Erlösung von allen Übeln erwarteten. Erst wenn die ganze Welt zur westlichen Welt geworden ist, hat die Geschichte ihr Ziel und ihr Ende erreicht. Alle Menschen sind dann Westmenschen. Ein Graus und Schrecken für Siedler, der kein Westdeutscher, kein Westeuropäer, kein Westberliner werden, sondern Berliner und als solcher Europäer bleiben wollte.

Europäisch war nicht zuletzt seine lebenslange Auseinandersetzung mit der antiurbanen Bewegung der Städteplaner und Architekten, die seit 1900 mit ihren Vorstellungen von der Stadt als grüner Vorstadt die quirlige Lebenswirklichkeit bedrohten. Wenn Siedler am Beispiel Berlins veranschaulichte, wie die wechselnden Modernen gemeinsam eine Absicht verfolgten, die herkömmliche Stadt zu ermorden, sprach er nicht als bornierter Lokalpatriot, sondern als alter Europäer, der aus seiner zu ihm gehörenden öffentlichen Lebenswelt vertrieben wird.

Urbanität ist allerdings auch eine ganz private Lebensform in der Stadt. Sie erfüllt sich in Geselligkeit, im Gespräch, im Wohlwollen füreinander. Mit Siedler ließ sich trefflich streiten oder gemeinsam schwärmen und das Glück übereinstimmender Gemüter genießen. Als freier Mann befreite er jeden von Ängstlichkeiten und Bedenklichkeiten und half ihm damit zu seiner Befreiung.

Mit Goethe stimmte er darin überein: „Nur die Lumpen sind bescheiden, / Brave freuen sich der Tat!“ Brav meinte, nicht folgsam und schüchtern zu sein, vielmehr im italienischen Sinne ein richtiger Bravo, ein unerschrockener Kerl zu werden, dessen Temperament um so mehr begeistert, je urbaner und liebenswürdiger es sich äußert. Die Stadt und das Bedürfnis, sich zu gefallen, indem man anderen gefällt, gehören zusammen. In diesem Sinne war Wolf Jobst Siedler, der großzügige Gastgeber, für den Lebenskultur mit der Lebenslust untrennbar zusammenhing, ein bravouröser Berliner als tätiger Mann mit großstädtischer Lässigkeit.

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