© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  50/13 / 06. Dezember 2013

Atypisch in die Zukunft
Datenreport 2013: Der neueste Sozialbericht entkräftet die Mär vom Jobwunder und bestätigt manche Fehlentwicklung
Toni Roidl

Angeblich erleben wir auf dem deutschen Arbeitsmarkt derzeit ein „Jobwunder“. „Zahl der Erwerbstätigen im siebten Jahr in Folge gestiegen“, jubeln die Medien. Doch der Chef des Statistischen Bundesamtes (Destatis) macht einen Strich durch diese Rechnung. Roderich Egeler sagt: „Das sogenannte ‘Jobwunder’ relativiert sich, wenn man nicht nur die Personen betrachtet, sondern die geleisteten Arbeitsstunden. 2012 lag das Arbeitsvolumen trotz einer deutlich größeren Zahl an Erwerbstätigen unter dem Wert von 1991. Die Zahl der von jedem Erwerbstätigen durchschnittlich geleisteten Arbeitsstunden ist in den letzten 20 Jahren fast kontinuierlich gesunken.“ Weniger Arbeit wird also auf mehr Arbeitnehmer verteilt, die weniger verdienen. „Atypische Erwerbsformen“ wie Minijobs prägen den deutschen Arbeitsmarkt.

Das Statistische Bundesamt, die Bundeszentrale für politische Bildung, das Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) und das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) haben den gemeinsam erhobenen Datenreport 2013 veröffentlicht. Der „Sozialreport“ soll Aufschluß über Entwicklungen im Komplex „Arbeit und Soziales“ geben.

Die Veröffentlichung solcher Berichte gleicht oft einem Ritual: Es wird eine „Schere zwischen Arm und Reich“ beklagt, Gewerkschaften und Wohlfahrtsverbände mahnen und warnen – und dann läuft alles weiter wie bisher. Diesmal ist das Ergebnis bemerkenswerter, denn es enthält einen Widerspruch: Obwohl in Deutschland so viele Menschen beschäftigt sind wie noch nie, sind immer mehr vom Abrutschen in die Armut bedroht. Wie paßt das zusammen?

Klassische Erwerbsbiographien, in denen jemand eine Ausbildung macht, im erlernten Beruf eine Stelle findet und bis zur Rente vierzig Jahre dort verbleibt, sind so gut wie ausgestorben. Bereits über 20 Prozent der Erwerbstätigen arbeiten heute in „atypischen Beschäftigungen“, also in Zeitarbeit oder Teilzeit – Tendenz steigend. Die Ausbildung dauert immer länger, die Einstiegsjobs sind schlecht bezahlt, die Anstellungen zumeist befristet, die Aufstiegschancen schlecht. Bei den Berufsanfängern im Alter zwischen 18 und 24 ist das Armutsrisiko daher höher als in den anderen Alterskohorten. Vor allem ist es schwierig, aus Praktikum und Minijob in unbefristete Festanstellungen zu kommen. Es besteht die Gefahr, daß sich eine Armutskarriere verfestigt. Die Wahrscheinlichkeit, im unteren Fünftel der Einkommen steckenzubleiben, ist in den letzten zehn Jahren laut Studie um zehn Prozentpunkte gestiegen – von 54 auf 64. Ein sozialer Aufstieg aus eigener Kraft gelingt nur wenigen. Selbst Bildung schützt nur bedingt gegen Armut: Fast zehn Prozent der Akademiker bilden ein „Wissensprekariat“. Dazu paßt die Meldung, daß die Studenten erstmals die Auszubildenden zahlenmäßig übertreffen.

„Arm“ ist in Deutschland, wer weniger als 980 Euro im Monat erwirtschaftet. Das entspricht 60 Prozent des mittleren Einkommens als Alleinstehender. Deshalb muß niemand verhungern oder unter Brücken schlafen. Die Studie spricht von „relativer Armut“ und meint damit die Ausgrenzung von „gesellschaftlicher Teilhabe“, also ob sich jemand einen Theaterbesuch oder eine Urlaubsreise leisten kann. Aber die Betroffenen können auch kein Kapital bilden. Was in die Haushaltskasse kommt, geht auch wieder heraus. Im Alter wird das zum Problem.

Betroffen sind vor allem zwei Gruppen: alleinerziehende Frauen und Ausländer. Von den „Menschen mit Migrationshintergrund“ gelten 21,5 Prozent arm. Die Forscher rechnen damit, daß die Zahl wegen der zunehmenden Einwanderung steigt. Wird nicht erzählt, die Zuwanderer seien „Fachkräfte“?

Noch mehr fanden die Forscher auf den 432 Seiten über Arme heraus. Bekanntes und Interessantes. So treiben Arme kaum Sport, ernähren sich schlecht und sind daher oft übergewichtig. 60 Prozent der Armen sind Raucher, bei den Qualifizierten sind es nur 25 Prozent. Interessant dagegen ist, daß in Bundesländern mit hoher Armut auch die Wahlbeteiligung niedrig ist. Arme setzen demnach kaum Hoffnung in die Politik.

Daß Armut schlecht für die Gesundheit ist, belegt die durchschnittliche Lebenserwartung. Diese liegt bei den Männern der niedrigsten Einkommensgruppe um elf Jahre unter derjenigen der Männer mit hohen Einkommen. Bei den Frauen beträgt der Unterschied durchschnittlich acht Jahre. Obwohl „Arme früher sterben“, wie Roland Habich vom Wissenschaftszentrum Berlin überspitzt formuliert, wird ihre Zahl im gesellschaftlichen Verhältnis zunehmen, wenn man die sichtbar gemachten Trends linear verlängert. Den Sozialstaat bringt das an den Rand der Leistungsfähigkeit. Immer weniger Gutverdiener tragen die Ausgaben der öffentlichen Kassen.

Wer arm ist, lebt logischerweise auch in Bezirken, die stärker von Lärm, Verschmutzung und Kriminalität geprägt sind. So fühlen sich insbesondere Frauen und Senioren subjektiv stark von Kriminalität bedroht. Weniger von Kriminalität bedroht fühlen sich dagegen „Migranten“. Dies, so die Forscher lapidar, hänge mit dem „höheren Anteil junger und männlicher Personen in der Gruppe der in Deutschland lebenden Migranten zusammen.“

Die Zuwanderung von Ausländern hat exorbitante Zuwachsraten: Über 100 Prozent beträgt die Steigerung bei Menschen aus Bulgarien und Rumänien. Hauptgründe für die steigende Zuwanderung sind die Euro-Krise und die EU-Osterweiterung. Das Herbstgutachten der Wirtschaftsforschungsinstitute Berlin, Halle, Rheinland-Westfalen und des Münchner Ifo-Instituts für die Bundesregierung bestätigt die Untersuchungen und fügt noch eine Prognose hinzu: Bis 2018 könnten mehr als 2,5 Millionen Arbeitssuchende aus EU-Ländern nach Deutschland strömen. Dadurch, so die Ökonomen, „dürften die Lohnsteigerungen in den nächsten Jahren deutlich geringer ausfallen, als es ohne die verstärkte Zuwanderung der Fall gewesen wäre“. Andererseits lindere sich durch den Zustrom aber auch der vielbeschworene Fachkräftemangel. orakeln die Gutachter.

Das sieht der aktuelle OECD-Rentenbericht anders: Im gesamten Untersuchungsraum der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung wird der breite Wohlstand abnehmen. In Deutschland sind bereits jetzt die Rentenbezüge für Menschen mit kleinem Gehalt die niedrigsten im ganzen OECD-Raum (Europa plus USA und Mexiko). Eingebauter Kollaps: Immer weniger Durchschnitts- und Gutverdiener müssen immer mehr Rentenlasten schultern. Drastisch bringt Habich die Probleme auf den Punkt: „Mit den für Forschungszwecke zur Verfügung stehenden Datensätzen der deutschen Rentenversicherung“, so der WZB-Mitarbeiter, könne ein „langfristiger Trend“ nachgezeichnet werden, der „beachtenswerte Ungleichgewichte in der Verteilung der Altersrenten ergeben“ werde.

Der Staat muß bei kleinen Löhnen immer öfter drauflegen, um den Lebensunterhalt zu sichern – im Bundesdurchschnitt bei fast zehn Prozent der Beschäftigten. In Sachsen-Anhalt (16,7 Prozent), Bremen (17,5) und Berlin (20,3) liegt der Satz der Sozialleistungsempfänger wesentlich darüber.

Nichts Neues von der Fertilität: Die Kinderquote liegt wie Blei bei 1,4 Geburten pro Frau. Die Frauen bekommen ihr erstes Kind immer später, durchschnittlich nun mit knapp über 29 Jahren. Laut Berechnung wird die Bevölkerung Deutschlands bis 2060 von derzeit 81,8 auf 70 bis 65 Millionen schrumpfen.

Die Alterspyramide steht weiter kopf: Wenn die geburtenstarken Jahrgänge der 1960er in Rente gehen, verschiebt sie sich geringfügig zugunsten der mittleren Alterskohorte. Dennoch ist sicher: Die Masse der Erwerbstätigen wird in den kommenden Dekaden zu einem erheblichen Anteil aus über Fünfzigjährigen bestehen.

Die Politik hat sich in den vergangenen Parlamentsperioden immer wieder neue Rezepte ausgedacht, um gegen diesen Trend zu steuern, von Elternzeit bis Elterngeld. Im Datenreport steht, was sich die Deutschen wirklich wünschen, um mehr Kinder in die Welt zu setzen.

Probanden wurden gefragt, welche Maßnahmen sie beeinflussen könnten, sich für ein (oder ein weiteres) Kind zu entscheiden. Aus einer Liste von acht Maßnahmen konnten die im Schnitt 29jährigen jeweils zwei auswählen. Genannt wurden am häufigsten: Garantierte Betreuung für unter Dreijährige, flexiblere Arbeitszeiten, bessere Teilzeitmöglichkeiten, Erhöhung des Kindergeldes und Steuervorteile für Eltern.

Die Autoren des Sozialreports untersuchten nicht nur demographische und wirtschaftliche Entwicklungen, sondern auch die Einstellung der Menschen dazu. Gefragt wurde nach der „allgemeinen Lebenszufriedenheit“, und gemessen wurde diese auf einer Skala von 0 („völlig unzufrieden“) bis 10 (ganz und gar zufrieden“). Die Deutschen pendeln sich zwischen 7,3 im Osten und 7,8 im Westen ein. Am unzufriedensten sind die Alleinerziehenden und Geschiedenen.

Die Zukunftserwartungen der Deutschen haben sich nach dem Krisenjahr 2008 nur kurz erholt. Trotz angeblich guter Wirtschaftslage blickt das Volk skeptisch nach vorne. Die Forscher schreiben: „Es herrscht eine gespannte Ruhe vor, die auf plötzliche Verschlechterungen der Lebensbedingungen gefaßt ist.“

Foto: Obwohl in Deutschland so viele Menschen beschäftigt sind wie noch nie, sind immer mehr vom Abrutschen in die Armut bedroht: Teilzeitjobs ersetzen Vollzeitarbeitsplätze

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