© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  50/13 / 06. Dezember 2013

Ansturm auf unser weißes Gold
Milchindustrie: Während der Export floriert, wird der heimische Markt vernachlässigt / Russen und Chinesen kaufen gerne attraktive Produkte „Made in Germany“
Christian Baumann

Auch wenn es dem Rest der Welt nicht gefällt: Deutsche Produkte sind gefragt wie nie zuvor. Voriges Jahr wurde Waren im Wert von 1,1 Billionen Euro ins Ausland verkauft (JF 46/13) – und für den Erfolg des Gütesiegels „Made in Germany“ sind nicht nur die Auto- oder Maschinenbaubranche verantwortlich. In den vergangenen zehn Jahren haben sich die deutschen Agrarexporte auf gut 60 Milliarden Euro verdoppelt. Damit steht Deutschland im Weltagrarhandel nach den USA und den Niederlanden auf Rang drei. Milch- und Milcherzeugnisse waren mit 5,5 Milliarden Euro nach Fleischwaren der zweitstärkste Agrarexportbereich.

Die Weltbevölkerung wächst, steigende Einkommen und damit einhergehend veränderte Eßgewohnheiten in einst armen Ländern erhöhen die Nachfrage nach Nahrungsmitteln mit einem hohen Veredelungsgrad. Während die Gesamtnachfrage für Milchprodukte von jährlich 609 auf 741 Millionen Tonnen um ein Fünftel steigen wird, soll sich die Nachfrage in den Schwellenländern sogar um über 30 Prozent erhöhen.

Gleichwohl ist ein Trend zu wachsender Autarkie in bisher importfreudigen Ländern wie China oder Rußland zu beobachten. Deutschland exportiert jährlich etwa 500.000 Tonnen Milchpulver nach China, was einem Viertel der EU-Produktion entspricht. Innerhalb von zwei Jahren verzehnfachten sich auch die Trinkmilchexporte aus Deutschland – 47.300 Tonnen davon gingen nach China. Dabei müssen die Chinesen für einen Liter deutsche Milch umgerechnet 3,50 Euro berappen. Derart auf den Geschmack gekommen, etablieren sich im Reich der Mitte modernste Milchfarmen mit unglaublichen Dimensionen: Seit 2008 ist der Anteil der Betriebe mit mehr als 500 Tieren von 17 auf 27 Prozent gestiegen. Hier entwickelt sich eine ernstzunehmende Konkurrenz.

Nach Rußland wurden im vergangenen Jahr mehr als 130.000 Tonnen Milch und Milchprodukte geliefert, was gut drei Prozent der deutschen Produktionsmenge entspricht. Doch politische Pläne trüben hier die Exportaussichten. Seit Jahren verkünden Präsident Wladimir Putin und seine Agrarminister, eine höchstmögliche Ernährungssouveränität erreichen zu wollen (JF 17/09). Die Fördermaßnahmen für die Landwirtschaft sollen laut Premier Dmitri Medwedew fortgesetzt werden, weshalb sich Rußland mittlerweile erlauben kann, die Handelsschranken nach Lust und Laune zu gestalten.

So geschehen im Februar dieses Jahres, als ein Importverbot für verzehrfertige Milch- und Fleischerzeugnisse aus den Ländern Bayern, Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen verhängt wurde, nachdem russische Inspekteure ein „wirksames System der tierärztlichen Überwachung“ vermißt hatten.

Auch auf dem deutschen Milchmarkt herrscht keineswegs eitel Sonnenschein: Seit Jahren ist ein Konsumrückgang zu verzeichnen. So sank im Zeitraum 2004 bis 2013 der private Haushaltsverbrauch von 158 auf 146 Kilogramm jährlich – ein Minus von acht Prozent. Während sich der Absatz von Trinkmilch im Vorjahr nur überproportional verringerte, brach der Verkauf „funktionaler“ Molkereiprodukte wie Joghurt oder Milchdrinks mit 20 Prozent regelrecht ein.

Konsumforscher empfehlen, das Heil in Produktinnovationen zu suchen, was sie anhand der Verkaufsentwicklung belegen können: Demnach punkten Produkte aus dem Bio-Segment und Fertiggerichte, die den Zeitgeist treffen. Back- und Grillkäse oder mundgerechte Käsezubereitungen liegen dabei voll im Trend. Innerhalb eines Jahres konnte die Käuferreichweite um mehr als acht Prozent auf über 45 Prozent und bei Minimozarella um sogar 24 Prozent erhöht werden.

Erfindungsreichtum bei den Molkereien und Käsereien ist also erforderlich, soll der heimische Markt mit seiner kaufkräftigen Konsumentenschar zurückerobert werden. Doch davon ist die Branche angesichts des derzeit scharfen Verdrängungswettbewerbs und der wertverschmähenden Aktionspreisschlachten bei Aldi, Lidl & Co. meilenweit entfernt. Daß auf diesem Wege eine langfristige Partnerschaft mit dem Lebensmittelhandel aufrechtzuerhalten ist, scheint schwer vorstellbar.

Es ist daher mehr als fragwürdig, wenn sich die Milchindustrie zu sehr auf den fernen Horizont konzentriert und dabei die Heimat aus den Augen verliert. Jetzt übermäßig Trockentürme zu bauen, um das „weiße Gold“ zu exporttauglichem Milchpulver verarbeiten zu können, hat mit Wertschöpfung recht wenig zu tun. Das Beispiel Rußland zeigt, wie schnell auf das derzeitig traumhafte Exportgeschäft ein böses Erwachen folgen kann.

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