© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  50/13 / 06. Dezember 2013

„Nur ein bißchen Muskelschwund?“
Im Koalitionsvertrag hat die SPD einen großen Schritt zur Multikulturalisierung Deutschlands durchgesetzt: Von der Union abgenickt, genießen Ausländer künftig das Privileg eines Doppelpasses. Der ehemalige CSU-Generalsekretär Thomas Goppel kritisiert den Schritt.
Moritz Schwarz

Herr Dr. Goppel, Sie kritisieren die Doppelpaß-Entscheidung Ihrer Partei. Warum?

Goppel: Die Einführung des Doppelpasses verfolgt nicht in erster Linie das Ziel, auf das die Diskussion fokussiert ist, nämlich neuen ausländischen Mitbürgern den Lebensalltag zu erleichtern.

Was für Ziele sind das dann?

Goppel: SPD und Grüne rechnen sich schon seit langem aus, daß uns der Doppelpaß in Deutschland vor allem zusätzliche Neubürger beschert, die den Parteien des linken Spektrums ihre Stimme geben. Natürlich aber verschweigen sie dieses Kalkül, schmücken sich stattdessen mit der honorigen Argumentation des Gutmenschen: Da darf niemand überfordert werden.

Geht dieses andere Kalkül auf?

Goppel: Daß da im Sinne der Erfinder die Büchse der Pandora aufgemacht wird, befürchte ich sehr wohl.

Wenn Sie recht haben, wäre die Zustimmung der Union zum Doppelpaß allerdings eine politische Dummheit.

Goppel: Wenn einer Zweifel an der Qualität einer Parteiführung haben will, wird er so formulieren. Trotzdem ist Dummheit das falsche Wort. Fehler, vielleicht Leichtgläubigkeit, reichen auch – so wie bei der Einführung des Optionsmodells vor zwei Jahrzehnten. Das Potential, das sich Rot-Grün aus der damaligen Grundentscheidung heute saugt, beträgt ja doch bis zu fünf Millionen neue Wähler und Wählerinnen, die – sagen die Auguren – zu drei Vierteln links aufschlagen.

Angeblich gibt es in der Union die Überlegung, tatsächlich seien Ausländer konservativer eingestellt als Deutsche und langfristig wäre Rot-Grün keineswegs ihre erste Wahl.

Goppel: Viel zu oft haben wir schon Herrn Erdogan seinen Türken in Deutschland sagen hören, daß die Deutsch-Türken seine Staatsbürger bleiben. Und die praktischen Erfahrungen, die wir mit den „Assimilierten“ sammeln, sind ganz gewiß nicht dazu angetan, der Doppelpaßeinführung widerspruchslos nachzugeben. Der Doppelpaß ist kein Instrument eindeutiger Identifikation mit dem Land des jeweiligen Lebensalltags; von daher wird die neue gesplittete Identität langfristig die Überzeugungskraft der Union reduzieren! – Nur ein bißchen Muskelschwund?

Geht es Ihnen in der Frage eigentlich nur um das Wohl Ihrer Partei?

Goppel: Sie haben bisher das Detail angefragt, nicht das große Ganze abgeklopft. Der Doppelpaß ist ein Signal an die Welt, darum geht es! Grüne und Sozialisten haben ihren alten Internationalismus im Kopf. Da verwundert das Eintreten für den Doppelpaß nicht. Die Union steht traditionell für die Bindung an die eigene Scholle, das „eingebürgerte“ Zuhausesein. Die bürgerlichen Parteien wollen alle dem einzelnen versichern: „Du gehörst zu einer Gemeinschaft, die dich trägt, für die du aber auch mitverantwortlich bist!“ Staatsbürgerschaft hat etwas zu tun mit Identität, die aus Vertrauen und Loyalität erwächst und die Mitverantwortung auch des einzelnen begründet. Mit der Zustimmung zum Doppelpaß relativiert die Union diesen Gedanken. Denn wer in einem Hotel übernachtet, der hat eine andere Beziehung zum Dach, unter dem er ausruht als der, der sich in den eigenen vier Wänden geborgen weiß.

Der Doppelpaß macht unser Land zu einem „Hotel Deutschland“?

Goppel: Wenn ich an einem Ort nach Orientierung frage, suchen muß, bleibt eine Restunsicherheit, die das Vertraute nicht kennt. Es darf nicht für viele zur Gewohnheit werden, im Zweifel die Heimat zu wechseln. Ein Land wechselt man nicht wie das Hemd. So wie das Land für uns Rückgrat zeigt, muß es erwarten dürfen, daß auch der einzelne nicht kneift, wenn es für das Ganze ernst wird. Hier geht es um das Thema Integration, das gelebt wird, wo nach Kräften mit- und füreinander gestanden sein will. Da finde ich es alles andere als gut, wenn manche künftig in erster Linie an den Austritt aus der Staatsbürgerschaft denken können. Integration heißt nicht „einer Laune nachgeben“ – heute hier und morgen dort. Sie ist ein Bekenntnis und bedeutet Bindung, Zugehörigkeit – ganz und nicht zur Hälfte! Wie drücken das unsere Landsleute im Norden aus? „Aus Daffke!“ Das klingt nach Nonsens und trifft den Nagel auf den Kopf. Solche staatsbürgerliche Grundhaltung darf der Staat nicht fördern.

Warum hat die Union dem Doppelpaß zugestimmt, den sie lange hart bekämpft hat?

Goppel: Das ist eine gute Frage. Vor zwanzig Jahren haben wir noch genau um diese Bruchstelle, die jetzt zugestanden wird, schwer gerauft und damals erklärt: Das kommt mit uns – der Union – nicht in Frage! Allerdings gilt – und das nicht erst inzwischen, sondern noch mehr: Wir leben in einem Land mit optimalen Konditionen des Zusammenlebens, so bürgernah wie fast nirgends sonst auf der Welt. Die Folge ist, daß unsere Mitbürger vermehrt glauben, daß diese Demokratie-Idylle selbstverständlich, quasi auf ewig gepachtet sei und nicht gepflegt, bewahrt und verteidigt werden müsse. Gleichzeitig sehe ich aber, wer und was in unserem Land inzwischen geduldet wird. Das nährt nicht nur bei mir die Befürchtung, daß sich solche allzu große Leichtfertigkeit rächen kann.

Was meinen Sie konkret?

Goppel: Hergeschenkt ist schnell etwas, nach einem Grundsatz zu leben aber nicht disponibel. Die Rede ist hier von der Verantwortung, der individuellen wie der des Staates. Verantwortung ist zentraler ethischer Wert bürgerlicher Politik. Heute geht es vielen, den Ideologen unserer Tage zuerst darum, es den Leuten leicht zu machen und ihnen die Last der Verantwortung abzunehmen. „Bloß keine Entscheidungen fällen“, ist der Gauklertext dieser Propheten in gesellschaftlicher Führungsposition. Genau das Entscheiden aber begründet erst das Erwachsensein. Da reicht das „Gefällt mir“ der Facebookler eben nicht mehr. Wer zum Beispiel heiratet, eine Familie gründet, sich niederläßt, der muß dafür eine Entscheidung treffen und, wenn er oder sie etwas gelten will, dieser treu bleiben. Bürgerliche Parteien kennen auch noch andere Beweggründe für die Bildung einer Gemeinschaft, die zueinander steht. Sie pflegen den Unterschied der Menschen und Völker auch deshalb, weil das einen gesunden Wettbewerb um die besten Lösungen für unsere Probleme in Bewegung setzt. Grüne, Sozialdemokraten, mancher Unionist auch, meinen, in der Aufgabe des Eigenen, Besonderen zeige sich die Bereitschaft zur Gemeinsamkeit. Die Geschichte über Jahrhunderte belegt uns aber, daß solche Zielvorgabe nicht trägt. Eintönigkeit ist des Menschen Antriebsgrund nicht. Erst Vielfalt liefert den Anreiz, besser, weil anders zu sein. Solange sie Grundlage der Wettbewerbe bleibt, werden Fleiß und Tüchtigkeit Chancen immer wieder neu verteilen und dumpfer Eintönigkeit vorbeugen, die die Folge jeglicher Gleichmacherei wohl auch in der Zukunft bleibt – bis zum nächsten Crash.

Daß die Union den Doppelpaß nun fast widerstandslos einführen will, zeigt doch, daß dieses von Ihnen beschriebene Denken in der Partei nicht mehr zu Hause ist.

Goppel: Das bestreite ich. Da bin ich alles andere als allein.

Und wie paßt das dann zusammen?

Goppel: Die Parteimitglieder, die so denken, sind und bleiben zahlreich. In der Führung räumen manche allerdings der Thematik wohl einen eher schwindenden Stellenwert ein, weil die Mehrheit unserer Mitbürger eindeutig die andere „Denke“ zugelassen wissen will. Was dann noch weniger erfreut, ist das Wissen darum, daß der Bedeutungsgrad auf der rot-grünen, heute der roten Seite, das Siegel der Unverzichtbarkeit trägt. Das allerdings hätte heftiger alarmieren sollen.

Die „FAZ“ urteilt, mit dem Doppelpaß „opfert die Union einen der letzten Reste ihres ‘konservativen’ Markenkerns“.

Goppel: Die Feststellung verdient bei der Umsetzung der Vertragssätze nachhaltig bedacht zu werden.

Hat die Parteiführung mit dieser Entscheidung die Identität der Union verraten?

Goppel: Nein, aber sie hat ein Stück ihrer Marke zu neuer Beschreibung geöffnet. Das muß man nicht wollen.

Vor zwanzig Jahren war es das Optionsmodell, heute ist es der Doppelpaß. Es wäre naiv zu glauben, daß damit Schluß ist. SPD und Grüne werden, bestärkt durch diesen Erfolg, neue multikulturelle Ziele formulieren, denen die Union dann erneut in einigen Jahren zustimmen wird.

Goppel: Das kann man befürchten, muß es aber nicht. Denn das Bauchgrimmen, das wir eben beschreiben, entsteht ja nur, weil die Union die Bundestagsmehrheit um zwei Mandate verfehlt hat. Die Bürger haben zumindest zugelassen, was wir zwei gerade bemängeln. Daß da noch mehr droht, müssen wir ihnen sagen, notfalls predigen. Wenn wir nicht wieder nachlässig werden, was unser eigenes Staatsverständnis angeht, während wir an Europa herummäkeln, ohne uns dementsprechend einzubringen, ist nicht aller Tage Abend.

Wo endet dieser Anpassungskurs?

Goppel: Letztlich da, wo Europa sich womöglich „verkauft“. Die Sage vom Stier und ihr erinnert uns daran, daß wir Wurzeln haben, die uns halten, binden, stark machen. Nach dem verheerenden Krieg der Ideologen haben wir unsere Wurzelbehandlung eigentlich alle aus unterschiedlichen Beweggründen selbst in Angriff genommen. Das Nachkriegskonstrukt, das die Vorgeschichte aufzuarbeiten bemüht war, hat zwar Unterschiede zur übrigen Welt bereinigt und Europa offen gezeigt. Aber es hat die Unterschiede zu anderen nicht mehr so herausgearbeitet, wie das für eine Gemeinschaft wichtig ist, die wesentliche Geschichts-etappen schon hinter sich hat – ganz im Gegensatz zu anderen, unseren Wettbewerbern um die sachgerechte Zielvorgabe für globale Einheit in regionaler Vielfalt morgen. Die eindeutige Staatsbürgerschaft gehört dazu. Dabei bleibt die Idee der Union – und sie ist es heute noch – eine hochmoderne: Stark sind wir, wenn alle ihre Fähigkeiten einbringen. Jeder muß und soll unverwechselbar bleiben. Für alle erkennbar und am angestammten Platz; abruf- und einsetzbar anzutreffen. Alles andere als Reisende in Sachen Identität.

Läuft nicht alles, was Sie sagen, summa summarum darauf hinaus, der Partei den Rücken zu kehren?

Goppel: Verlassen Sie das Lokal, wenn der Koch – frisch verbandelt – die Suppe versalzen hat?

Sie essen lieber weiter, was Ihnen nicht schmeckt?

Goppel: So denkt der Journalist. In der Politik, zumal in der eigenen Partei, zählt die Grundüberzeugung und die Gewißheit vieler Gemeinsamkeiten. Für mich reklamiere ich das.

Nochmal die „FAZ“: Ausgerechnet Horst Seehofer hat sich „an die Spitze des Kreuzzugs zur Abschaffung des Optionsmodells“ gesetzt. Können Sie uns das erklären?

Goppel: Nein, kann ich nicht, will ich auch gar nicht. Jetzt geht es um die Folgen. Womöglich auch um Wirkungsgrenzen. Der Blick nach vorn ist gefragt. Wir sollten uns mit dem befassen, was kommt. Da ist genug zu tun.

Aber hat Sie Seehofer da nicht überrascht?

Goppel: Wir leben in einer Zeit des Umbruchs, in der alle – sogar Papst Franziskus – lange gültige Grundsätze überdenken. Vorreiterrollen allerdings wollen immer bedacht sein.

Die herkömmliche Erklärung in den Medien ist, Seehofer sei ein reiner Taktierer, dem Grundsätze nichts bedeuten. Stimmt das?

Goppel: Unser Ministerpräsident hat ein Gespür für das Machbare, um das ihn viele beneiden – sichtlich vor allem auch die Journalisten. Die politischen Zielvorgaben, die er in die Koalitionsgespräche eingebracht hat, sind inzwischen Gemeinschaftsprogramm. Das freut doch, oder? Hinter dem, was wir Bayern wollten, steht eine Mehrheit der Bevölkerung. Das mag Außenstehende stören. Wir finden das gut. Auch ich. – Daß sich in der Staatsbürgerfrage die SPD-Position im Koalitionspapier wiederfindet, beurteile ich so wie Frau Nahles das Thema Maut: Die Koalition startet. Über das Ergebnis reden wir 2017. Wenn Sie so wollen, es ist viel geschrieben, aber noch lange nicht alles gesagt, geschweige denn tatsächlich in Paragraphen gegossen. Die Zeit steht nicht still.

 

Dr. Thomas Goppel, der ehemalige CSU-Generalsekretär und langjährige bayerische Staatsminister ist heute Mitglied im Parteivorstand und Abgeordneter des Bayerischen Landtags. Als Sohn des früheren bayerischen Ministerpräsidenten Alfons Goppel und Maximilianeums-Mitglied seit 1974 zählt Goppel zum Urgestein der CSU. 1990 wurde er unter Max Streibl Minister für Bundes- und Europaangelegenheiten, 1994 übernahm er als Nachfolger Peter Gauweilers das Ministerium für Landesentwicklung und Umweltfragen. 1999 avancierte er zum Generalsekretär der Partei, die unter seiner Organisation 2003 einen historischen Wahlsieg mit über sechzig Prozent errang. 2004 wurde Goppel erneut Minister, diesmal für Wissenschaft, Forschung und Kunst. 2008 galt er als möglicher Nachfolger Ministerpräsident Günther Becksteins, verzichtete aber zu gunsten Horst Seehofers auf eine Bewerbung. Goppel, geboren 1947 in Aschaffenburg, ist zudem Sprecher des von ihm mitgegründeten Arbeitskreises Christsoziale Katholiken.

www.goppel.de

Foto: Demonstration für den Doppelpaß vor der CDU-Parteizentrale (mit Cem Özdemir, M.): „Das Land wechselt man nicht einfach wie das Hemd. Staatsbürgerschaft hat etwas zu tun mit Identität, die aus Vertrauen und Loyalität erwächst und die Mitverantwortung auch des einzelnen begründet. Mit der Zustimmung zum Doppelpaß relativiert die Union diesen Gedanken.“

 

weitere Interview-Partner der JF

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen