© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  49/13 / 29. November 2013

Zwischen Vorsicht und Wahnsinn
Umweltgefahren und Technologierisiken lauern überall, doch die Angst davor kann auch krank machen
Christoph Augner

Atomkraftwerke, Autoabgase, elektromagnetische Felder, Krankheitserreger aller Art, Schadstoffe in Nahrungsmitteln, Ozon und Klimawandel – zahlreiche Gefahren sind real, doch die panische Angst vor Risikofaktoren hat auch ernste Nebenwirkungen: falsche Ursachenzuschreibung von Symptomen, Wahnvorstellungen und übersteigerte Angst vor echten oder vermeintlichen Umweltkrankheiten.

Eingebildete Kranke gab es schon immer, aber diese Ängste nehmen offenbar zu und treiben mitunter seltsame Blüten: Eine Dame mittleren Alters geht zu ihrem Hausarzt. Sie berichtet von eigenartigen kleinen Maden, die sie aus ihrer Haut gezogen hat. Sie zeigt eine Dose mit einer eigenartigen Sammlung kleiner Partikel, den Beweis für „Parasitenbefall“. Der Arzt schickt die Probe ans Labor. Ergebnis: Das Lichtmikroskop zeigt kleinste Lebensmittelreste, das serologische Ergebnis ist negativ. Doch die Dame läßt sich nicht beruhigen und wechselt den Arzt. Dasselbe Spiel beginnt erneut, diesmal beim Hautarzt.

„Das ist ein typisches Verhalten für Menschen, die an Dermatozoenwahn leiden“, sagt die Parasitologin Ilse Jekel vom Universitätsklinikum Salzburg. Bei der auch Parasitenwahn genannten Psychose gehen die Patienten fälschlicherweise davon aus, daß sie von Parasiten, Bakterien oder Ungeziefer befallen sind. Die Lebensqualität dieser Menschen ist zum Teil erheblich beeinträchtigt, häufig kommt es zu Selbstverletzungen motiviert durch den Versuch, „Beweismittel“ aus der Haut „sicherzustellen“.

Dieses Phänomen ist äußerst selten, hat aber durch mediale Verbreitung der sogenannten Morgellonen-Erkrankung an Bedeutung gewonnen. „Bei den Morgellonen soll es sich um das Wachstum von Fasern aus der Haut handeln, das durch Umweltgifte verursacht wird. Die Folgeschäden reichen bis hin zu kognitiven und emotionalen Defiziten. Wissenschaftlich gesehen ist das unhaltbar, die Laborbefunde sind in diesen Fällen wiederholt negativ. Die Patienten lassen sich aber von dieser Idee nicht abbringen“, sagt Jekel.

Das geht so weit, daß in den USA sogar eine Morgellon Research Foundation gegründet wurde, die dieses Thema immer wieder in die Medien bringt. Auch wenn diese Menschen nicht von Parasiten oder anderen Schädlingen befallen sind, sind sie zum Teil schwer krank. Es gab Fälle, in denen die Betroffenen ihr ganzes Haus mit Wasser geflutet haben – aus Angst vor dem Parasitenbefall.

Pathologische Steigerungen von Umweltängsten sind auch in anderen Bereichen bekannt. Es sind ganze Krankheitsbilder, bei denen der Verdacht besteht, daß psychische Faktoren eine erhebliche Rolle bei der Entstehung spielen: Multiple chemische Sensitivität, Sick-Building-Syndrom (Krankes Haus) oder die Elektrosensitivität. Letztere wird besonders kontrovers diskutiert: Während Betroffene und Selbsthilfegruppen felsenfest davon ausgehen, daß Symptome wie Kopfschmerzen, Ausschläge, Konzentrationsstörungen von den elektromagnetischen Feldern der Mobilfunktechnik herrühren, sind viele Wissenschaftler von der psychischen Genese der Elektrosensitivität überzeugt. Dafür sprechen Geschichten, in denen Patienten ihre Symptome zum Beispiel einem neuen Mobilfunksender zuschrieben. Im nachhinein stellte sich dann heraus, daß der noch gar nicht in Betrieb war.

„In kontrollierten Expositionsstudien werden während einer Scheinexposition häufig die gleichen Symptome geschildert wie während einer tatsächlichen Exposition durch elektromagnetische Felder,“ sagt Michael Witthöft von der Universität Mainz. Auch Personen, die davon überzeugt sind, elektrosensitiv zu sein, sind nicht in der Lage, tatsächliche Exposition von Schein-Exposition zu unterscheiden. Für den Psychologen ist eine wesentliche Grundlage für die Entstehung der Elektrosensitivität der Nocebo-Effekt, eine Art Umkehrung des Placebo-Effektes, der von einer „Symptomentwicklung aufgrund einer negativen Erwartungshaltung und einem starken Gefährdungs- bzw. Bedrohungsgefühl“ ausgeht.

Die Studien von Witthöft und seinen Kollegen zeigen auch, daß der Nocebo-Effekt durch die Berichterstattung in den Medien verstärkt werden kann. Also sind die Medien schuld? „Nein, bei der Elektrosensitivität handelt es sich um eine multifaktorielle Genese. Allerdings zeigen unsere Ergebnisse, daß bei ängstlichen Personen, die eine negative Erwartungshaltung bezüglich der Gesundheitsgefahren von elektromagnetischer Strahlung haben, entsprechende Medienberichte ein Erleben von körperlichen Beschwerden intensivieren können“, so Witthöft.

Welche Folgen die Berichterstattung von fiktiven Gesundheitsgefahren haben kann, zeigte in den achtziger Jahren die Arjenyattah-Epidemie im Westjordanland. Ein Mädchen, das über Übelkeit klagte und eine Schultoilette, die nach Schwefelwasserstoff roch – das waren jene Zutaten, die zu einer Massenhysterie mit fast tausend Erkrankten und zahlreichen Krankenhausaufnahmen führten. Die Gesundheitsbehörden vermuteten Giftgas hinter den Symptomen. Die Medien verbreiteten diese Information über Wochen.

Die Epidemie endete abrupt, nachdem klar war, daß sämtliche Befunde der Erkrankten negativ waren und kein Giftstoff in der Umwelt gefunden wurde. Ein ähnlicher Fall ereignete sich 1998 in den USA: Angeblicher Gasgeruch in einer Schule führte zu zwei Evakuierungen, über 100 Krankenhausaufnahmen und extensiver Medienberichterstattung. Verschiedene Behörden untersuchten die Schule und fanden – nichts.

Die Rolle der Medien in der Risikokommunikation betont auch der englische Soziologe Adam Burgess von der University of Kent, der schon vor zehn Jahren in seinem Buch „Cellular Phones – Public Fears and a Culture of Precaution“ die Kommunikation potentieller Risiken durch den Mobilfunk in England analysierte. „Die Journalisten glaubten in den neunziger Jahren, der Mobilfunk sei das zweite Rauchen. Und jeder wollte der erste sein, der darauf hinweist“, erläuterte Burgess.

Die englischen Medien führten in dieser Zeit Kampagnen gegen das mobile Telefonieren und hatten es aufgrund des BSE-Skandals mit einer defensiven und vorsichtigen Politik zu tun. „Der sogenannte Vorsorge-Ansatz wurde damals modern: daß heißt jedes noch so kleine potentielle Risiko muß ausgeschaltet werden. Das ist kindisch. Wir leben nicht in einer perfekten Welt. Ein gesunder Umgang mit Risiken beinhaltet das Abwägen von Alternativen und welche Folgen diese jeweils haben können“, meint Burgess.

Die Liste der Risiken und Gefahren, denen wir täglich ausgesetzt sind, ist lang. Gewarnt zu werden ist notwendig und richtig – aber das kann letztlich im unbegründeten Fall leider auch gefährlich werden. Ein Leben mit Raumanzug und Sturzhelm garantiert kein risikofreies Leben. „Zu Tode gefürchtet ist auch gestorben“, formuliert der Volksmund wie so häufig kurz und treffend.

 

Dr. Christoph Augner ist Medizin- und Wirtschaftspsychologe und Gründer des Wissenschaftsblogs Moments of Truth.

augner.blogspot.co.at

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