© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  49/13 / 29. November 2013

Beruf und Privates strikt trennen
Gesundheitsökonomie: Wissenschaftler debattierten über die Frage, ob die Arbeitswelt psychisch krank macht / Unternehmen investieren in Gesundheitsprogramme
Hans-Bernhard Wuermeling

Die Zunahme der psychischen Erkrankungen ist erschreckend und verteuert das Gesundheitswesen. Nach den Herz-Kreislauf-Leiden und Krankheiten des Verdauungssystems finden sich mentale und Verhaltensstörungen mit etwa 30 Milliarden Euro jährlichen Kosten auf Rang drei im deutschen Gesundheitsbudget. Auch in Österreich hat sich beispielsweise die Zahl der Krankenhaustage wegen psychischer Erkrankungen zwischen 1999 und 2012 von 1,3 auf 3,4 Millionen mehr als verdoppelt. Ob das mit der Arbeitswelt zusammenhängt, hat das Institut für medizinische Anthropologie und Bioethik (IMABE) zusammen mit der Österreichischen Ärztekammer kürzlich von Experten diskutieren lassen.

Für den Psychiater Christian Haring aus Hall in Tirol war dieser Zusammenhang eher indirekt gegeben, nämlich durch den – teilweise arbeitsbedingten – Wandel der Wohn- und Lebensgemeinschaften. Zwar gelte heute noch das klassische Ideal der Familie mit der traditionellen Rollenverteilung zwischen Mann und Frau; doch stimmten Ideal und Wirklichkeit kaum mehr überein. Das Einelternhaus, die „Patchwork“-Familie, die eingetragene Lebensgemeinschaft oder der Single-Haushalt sowie das Altersheim ersetzen die Familie, aber eben nur unvollkommen.

Die Defizite überforderten die sogenannte Resilienz der Menschen. Dieser erst 1955 von Emmy Werner eingeführte Begriff (lateinisch resilire, Wiederaufspringen) steht für die Fähigkeit eines Systems, nach einer Störung immer wieder wie ein Stehaufmännchen in seine Ausgangslage zurückzukehren. Auf den Menschen angewandt bedeutet Resilienz die Fähigkeit, Krisensituationen zu bestehen oder gar an ihnen zu wachsen. Resilienz werde gefördert durch Erziehung in Schule und Beruf, aber auch durch den Einklang von Arbeits- und Privatleben („Work-Life-Balance“).

Verminderte Resilienz führt zu Störungen der Befindlichkeit, deren Krankheitswert der Sozialpsychiater Klaus Dörner problematisierte. Aus der Sicht einer historischen Anthropologie stellte der langjährige Leiter der Westfälischen Klinik in Gütersloh Thesen auf. Die Industrialisierung habe die bis dahin einheitliche „Sinnwelt des einen Hauses“ zerrissen, so daß nur noch die Welt der industriellen Arbeit und die des nur mehr familiären Wohnens verblieben sei.

Das Psychische sei damit isoliert und damit störungsanfällig geworden. Daraus folgende Befindlichkeitsstörungen seien zu Krankheiten erklärt worden. Die Kranken, wenn ihnen nicht zu helfen war, seien ausgegrenzt, abgeschoben, schließlich auch als lebensunwert vernichtet worden. Der früher breite Fächer für die Erklärung eines zunächst unklaren psychischen Unwohlseins, etwa seiner politischen, ökonomischen oder religiösen Gründe, habe jede Glaubwürdigkeit verloren. Gleichzeitig sei die 150jährige Industrieepoche zu Ende gegangen, weil die Arbeit an Sachen an Maschinen abgegeben worden sei. In der neuen Dienstleistungsepoche dominiere die Arbeit am Menschen (Pflege, Beratung). Die Normen der Industrieepoche seien dafür nicht mehr anwendbar. Vielmehr müsse eine „Arbeitswelt ohne Effizienzsteigerung mit ihren etwaigen Verzichtleistungen“ akzeptiert werden.

Vergils labor improbus, die ungute Arbeit, die alles besiegt, zitierte die Philosophin Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz. Sie sei von Sklaven geleistet worden, während das Freisein von Arbeit als Kennzeichen der eigentlichen Würde des Menschen gegolten habe. Erst die christliche Botschaft mit der Befreiung der Sklaven habe zu einer Aufwertung der Arbeit geführt. In der Renaissance habe sich der Mensch als „zweiter Gott“ verstanden, der die Welt durch seine Arbeit zur Vollendung zu führen habe. Mit der Industrialisierung sei aber Arbeit nicht mehr als einzulösender Schöpfungsauftrag verstanden worden, sondern sie habe den Menschen in einen von ihr Besessenen (heute: „Workaholic“) verwandelt, für den es keine Balance mehr zwischen Arbeit und Muße gebe.

An dieser Stelle bot die Leiterin des Europäischen Instituts für Philosophie und Religion ihre Unterscheidung von Zweck und Sinn an. Zwecke seien Ziele, die möglichst schnell und mit rationalen Mitteln erreicht werden sollen. Sinn habe demgegenüber kein Ziel in der Zeit, sei „selbsttragend“. Leicht sei das zu verstehen, wenn man bedenke, daß es sinnlos sei, eine Mozartsymphonie schnell, also mit erhöhter Bandgeschwindigkeit, abzuspielen. So könne auch berufliche Arbeit sinnlos sein, wenn man nur zweckhaft bestrebt ist, sie möglichst schnell hinter sich zu bringen.

Doch könne Arbeit auch sinnvoll werden, wenn sie „im Tun selbst die Freude am Tun“ gewähre, die allem richtig Getanen innewohne. Doch das erschwere die heutige Arbeitswelt. Nach Botho Strauß werde Arbeit nämlich mehr und mehr in der „sekundären Welt“, vorwiegend der elektronisch simulierten, geleistet. Die sinnlich und leiblich erfaßbare Welt verblasse demgegenüber. Zwecklos und sinnvoll blieben nur noch die Grundvollzüge des Daseins: Gezeugtwerden, Lieben und Sterben, eigentlich alles Leben, das uns „gratis et con amore“, umsonst und liebevoll als Gabe verliehen sei.

An den Charakter der Gabe erinnere schon Hildegard von Bingen, indem sie von einem „Netz der Freundschaft“ gesprochen habe, in das alle Geschöpfe eingebunden seien: der Apfel falle im Herbst „gerne“ vom Baum, so daß ihn der Mensch nicht einmal pflücken müsse. Der Mensch sei in die Freundschaft der Dinge eingesetzt, die ihm willig und nicht widerwillig seien. So gesehen kann die Arbeit, ob an Dingen oder Menschen, über alle Zweckhaftigkeit hinaus sinnvoll werden – und zur Resilienz und zur seelischen Gesundheit beitragen.

Hochpolitisch war schließlich der Vortrag von Joachim Burger, „Director Human Resources“ bei T-Mobile Austria. Der Personalchef schilderte die vielfältigen Aktivitäten, mit denen sein Unternehmen für „Mental Health“, die psychische Gesundheit seiner Mitarbeiter sorge. Dabei handelt es sich nicht nur um Kulturprogramme, sondern um eine Rundumversorgung in allen Lebenslagen bis hin zur Vermittlung des Scheidungsanwaltes. In der Diskussion wurde befürchtet, daß damit möglicherweise die Grenze zur einer Sinnvermittlung erreicht oder gar überschritten werde – zum Zwecke der Effizienzsteigerung von T-Mobile. Eine solche Perversion widerspreche aber der seit der Antike gepflegten und umkämpften Trennung des öffentlichen Raumes (der polis) vom privaten Bereich (dem oikos). In totalitären Systemen werde diese Trennung aufgehoben, dabei tritt kollektiver Zwang an die Stelle der Freiheit.

Am Rande der Tagung wurde Karl Kraus zitiert, der einst der Stadt Wien durchaus zugestand, für Abwasser- und Müllbeseitigung zu sorgen, aber darauf bestand: „Gemütlich bin ich selber.“ Oder wissenschaftlich formuliert: „Mental Health“ ist nicht aus der Arbeitswelt herstellbar, sondern folgt aus deren Harmonie mit dem von ihr deutlich zu trennenden privaten Lebensraum.

 

Prof. Dr. Hans-Bernhard Wuermeling war Mitglied des Wissenschaftlichen Beirates der Bundes­ärzte­kammer. Derzeit leitet er die Programmkommission der Katholischen Ärztearbeit Deutschlands.

IMABE-Kongreß „Sinndimension der Arbeit“: www.imabe.org

Foto: Erschöpfung durch Verfügbarkeit rund um die Uhr: Kulturprogramme und Rundumversorgung in allen Lebenslagen zur Produktivitätssteigerung?

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