© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  49/13 / 29. November 2013

Der neue Beutezug
Raubkunst: Bei der Bewältigung von Kriegs- und Diktaturfolgen geht es nicht nur um Recht, sondern auch um widerstreitende Interessen
Michael Paulwitz

Der Fall des Münchener Kunstsammlers Cornelius Gurlitt hat den Blick der Öffentlichkeit einmal mehr auf offene Rechtsfragen, unlösbare Interessenkonflikte und vergessene Verluste gerichtet: Der Zweite Weltkrieg und zwei totalitäre Diktaturen haben die Eigentumsverhältnisse in Deutschland und Europa gründlich durcheinandergeworfen und die Nachwirkungen sind bis heute zu spüren.

Eine platte und sensationsheischende Medienberichterstattung bringt die umfangreiche Bildersammlung, die Anfang 2012 in der Schwabinger Privatwohnung des betagten Sammlers beschlagnahmt worden ist, vor allem mit dem Schlagwort „NS-Raubkunst“ in Verbindung. Der Begriff wird üblicherweise definiert als „verfolgungsbedingt entzogene Kulturgüter“ aus dem Eigentum von Personen, „die einer Personengruppe angehörten, die von den Nationalsozialisten zwischen 1933 und 1945 aus rassischen, religiösen und politischen Gründen verfolgt“ worden waren.

Eine Schätzung des amerikanischen Kunsthistorikers Jonathan Petropoulos, der den US-Präsidenten in dieser Frage berät, nannte im Jahr 2000 eine Dimension von 600.000 entwendeten Kunstwerken – ein Drittel aus Deutschland und Österreich, die Hälfte aus West- und rund hunderttausend aus Osteuropa –, von denen bereits die Alliierten den größten Teil den Eigentümern zurückerstattet hätten. Bisher nicht zurückgegeben, aber identifizierbar sollen derzeit noch rund zehntausend Kunstwerke sein. Der „verfolgungsbedingte Entzug“ ist dabei weit gefaßt; nicht nur Wegnahmen und Beschlagnahmungen durch die Staatsmacht fallen darunter, sondern auch erzwungene Notverkäufe etwa zur Finanzierung einer Flucht oder des Lebensunterhalts nach Verlust der Existenzgrundlage.

Mit „Beutekunst“ hingegen bezeichnet man gemeinhin „kriegsbedingt verbrachte Kulturgüter“, die von den alliierten Besatzern in ihre Heimatländer abtransportiert worden sind. Der gewollt harmloser klingende Begriff führt in die Irre; auch solche Plünderungen sind durch die Haager Landkriegsordnung seit über hundert Jahren geächtet. Vor allem in Rußland befinden sich noch immer, oft unsachgemäß gelagert und vom Verfall bedroht, Hunderttausende Kunstwerke, Museumsexponate und Bibliotheksbestände, die meist aus Evakuierungsdepots deutscher Museen und Bibliotheken stammen. Auch die im polnischen Krakau bis heute verwahrte Sammlung von 300.000 wertvollen Bänden und Handschriften aus der Preußischen Staatsbibliothek Berlin gehört in diese Kategorie.

Rußland betrachtet die geraubten Kulturgüter de facto als Reparationen und verweigert seit Jahren Gespräche über Restitutionsfragen, die von deutscher Seite ohnehin nur halbherzig und selten eingefordert werden; jede Rückgabe wäre ein „nachträglicher Sieg Deutschlands“, lautet der offizielle Standpunkt. Ein Gesetz hat das Raubgut inzwischen pauschal zu „Staatseigentum“ erklärt. Ebenso mauert Polen in der Frage der „Berlinka“-Sammlung, während von deutscher Seite wiederholt sogar Museumsgüter an polnische Behörden in Städten der annektierten deutschen Ostgebiete ausgeliefert wurden. Zahlreiche geplünderte Stücke sind auch in entgegengesetzter Richtung in amerikanischen Museen, Sammlungen oder auf Veteranen-Dachböden verschwunden; der Restitutionseifer hält sich jenseits des großen Teiches ebenfalls in Grenzen.

Aus anderen Staaten entwendete Bilder wurden zunächst, soweit identifizierbar, an diese zurückgegeben, die jedoch oft die Weitergabe an die ursprünglichen Privateigentümer unterließen. Für geraubtes jüdisches Eigentum leistete die Bundesrepublik Deutschland nach dem Luxemburger Abkommen von 1952 eine Globalentschädigung in Milliardenhöhe an die Jewish Claims Conference. In Westdeutschland ansässige Privatpersonen konnten nach dem Bundesrückerstattungsgesetz von 1957 Entschädigung für nicht mehr auffindbare Vermögenswerte bis 31. März 1959 beantragen. Die Frist für Anträge nach dem Bundesentschädigungsgesetz endete 1969.

Das war seinerzeit ausdrücklich als „Schlußstrich“ gedacht. Nach der Wiedervereinigung 1990 wurde auf Druck jüdischer Organisationen die „Raubkunst“-Frage jedoch neu aufgerollt, nicht zuletzt weil in der DDR bis dato keinerlei Rückerstattungen stattgefunden hatten. Zugleich wuchs die Kritik an den westdeutschen Verjährungsfristen. Mit der „Washingtoner Erklärung“ von 1998 vereinbarten 44 Staaten, darunter Deutschland, und mehrere, vor allem jüdische Organisationen, moralische über juristische Erwägungen zu stellen und nach Kräften zur NS-Zeit beschlagnahmte Kunstwerke zu identifizieren, die Erben ausfindig zu machen und „gerechte und faire“ Lösungen zu finden.

Die Erklärung war rechtlich nicht bindend, hatte aber dennoch weitreichende Folgen. Großes Aufsehen erregte 2006 der „Fall Kirchner“: Trotz nicht zweifelsfrei geklärter Provenienz mußte das Brücke-Museum Berlin Ernst Ludwig Kirchners „Berliner Straßenszene“ von 1913 an die Enkelin des jüdischen Kunstsammlers Alfred Hess herausgeben, weil die Stadt Berlin nicht beweisen konnte, daß die Witwe Hess’ beim Verkauf des Bildes zur NS-Zeit einen „angemessenen Preis“ erzielt und auch erhalten habe. Das sei auch nicht beweisbar, kritisierte damals der Präsident des Deutschen Museums Michael Eissenhauer, der einen „Beutezug des Big Business“ ausmachte, um „den Kunstmarkt zu beleben“. Es gehe um „die Öffnung aller deutschen Museen als Nachschub für den internationalen Kunstmarkt und eine höchst vermögende Sammlerschaft“, vermerkte der Chef des Berliner Auktionshauses Villa Grisebach verbittert in der FAZ: „Man sagt ‘Holocaust’ und meint Geld.“

Der Verdacht lag nahe: Kirchners „Straßenszene“ wurde am 8. November 2006 in New York für 38 Millionen US-Dollar von dem Milliardär Ronald S. Lauder, Präsident des New Yorker „Museum of Modern Art“, für sein Privatmuseum „Neue Galerie“ ersteigert. Lauder, Sohn und Erbe der Kosmetik-Zarin Estée Lauder, ist seit 2007 Präsident des Jüdischen Weltkongresses (WJC). Im Zusammenhang mit dem Fall Gurlitt forderte Lauder eine Abschaffung der geltenden Verjährungsfristen – was nach rechtsstaatlichen Grundsätzen rückwirkend gar nicht möglich wäre –, die Einrichtung einer Kommission, die alle öffentlichen Sammlungen und Museen in Deutschland nach „NS-Raubkunst“ durchsuchen solle, und die Veröffentlichung von „Kunstwerken zweifelhafter Provenienz“ in privaten Händen. Lauders WJC und der Zentralrat der Juden in Deutschland hatten auch die von der Staatsanwaltschaft beabsichtigte Rückgabe jener Werke an Cornelius Gurlitt, die zweifelsfrei dessen Eigentum seien, scharf verurteilt.

Gurlitt darf sich inzwischen mit einigem Recht selbst als Opfer eines staatlichen „Kunstraubs“ fühlen: Wegen eines unbestätigten Verdachts auf Steuerhinterziehung wurde seine gesamte Kunstsammlung pauschal beschlagnahmt, einbehalten und gegen seinen Willen zu großen Teilen veröffentlicht. Weder die Washingtoner Erklärung, die private Sammlungen ausdrücklich ausnimmt, noch der Hinweis auf den Zusammenhang eines Teils der Gurlitt-Sammlung mit den Aktionen der Nationalsozialisten gegen „Entartete Kunst“ bieten dafür eine Handhabe: Die unter dieser Parole beschlagnahmten rund 20.000 Kunstwerke entstammten öffentlichen Museen, die keine Restitutionsansprüche haben, da es sich um staatliches Eigentum handelte, das zum Teil durch ausgewählte Kunsthändler wie Gurlitts Vater Hildebrand verwertet wurde.

Interessant wird allerdings die Frage, ob die Gerichte analog zum „Sachs-Urteil“ des Bundesgerichtshofs eine Verjährung von Herausgabeansprüchen verwerfen, wenn eine Sammlung – wie die Gurlitts – längere Zeit als „verschollen“ galt. Der BGH hatte im März 2012 dem Erben des Berliner Zahnarztes Hans Sachs die bereits in den sechziger Jahren in Ost-Berlin wiederaufgetauchten Teile von dessen historisch bedeutender Plakatsammlung zugesprochen, obwohl Sachs schon 1961 eine ihm angemessen erscheinende Abfindung angenommen und mehrfach seinen Willen bekundet hatte, die Sammlung im heutigen Deutschen Historischen Museum zu belassen. Damit war die bisherige Rechtspraxis auf den Kopf gestellt. Die Geschichte der juristischen Willkür im Umgang mit „NS-Raubkunst“ ist nicht zu Ende, sie wird von der Justiz fortgeschrieben.

Foto: „Löwenbändiger (Zirkus)“, Gouache von Max Beckmann (1930): Das Werk, von Cornelius Gurlitt an das Aktionshaus Lempertz verkauft, wurde nach gütlicher Einigung mit dem Nachlaß Alfred Flechtheim versteigert

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