© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  48/13 / 22. November 2013

Zitronen des Nordens
Kompott, Schnaps oder herzhaft: Die Quitte hat ihre Renaissance verdient
Matthias Bäkermann

Jeder hat ähnliches schon einmal erlebt. Zweitakterabgase, Braunkohlendunst oder der süßlich-muffige Wofasept-Geruch, – zack: Im Bewußtsein entsteht plötzlich die DDR wieder neu. Der Schriftsteller Marcel Proust beschrieb in seinem Roman „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ eindringlich, wie der Duft eines in Tee getränkten Zitronenkuchens verloren geglaubte Kindheitserinnerung wachrief. Später benannten Hirnforscher das Phänomen, bei dem Gerüche eine viel höhere Langzeitwirkung als andere Sinneseindrücke offenbaren und über das Limbische System des Gehirns sogar das Verhalten stimulieren können, den „Proust-Effekt“.

Claudia Diewald und Ingeborg Scholz haben diesen „Proust-Effekt“ beim Geschmack von Quitten. Diese Frucht aus der Familie der Rosengewächse rufe ein nostalgisches, etwa fünfzig Jahre altes Stilleben wach, beschreiben die Autorinnen im Vorwort ihres Buches. In dieser Momentaufnahme steht das gelbe faustgroße Obst in einem Plastiksieb auf der gemusterten Wachstuchdecke, daneben eine Frau mit bunter Kittelschürze und scharfem angerosteten Küchenmesser, die ihre überschaubare Ernte auf einem alten Holzbrett gerade zum Einkochen zurechtschnippelt.

Fünfzig Jahre und gute fünfzig Landlust-Ausgaben später hat das vergessene Obst aus dem Reich der Kittelschürze längst schon wieder Renaissance. Kein Bioladen zwischen Berliner Prenzlberg und Hamburg-Pöseldorf kann es sich noch leisten, kein Quittenchutney oder etwa Rotbusch-Quitten-Tee vorrätig zu halten. Für den deutschen Markt haben die „Bionade“-Macher ihre Fermentierungslimo schon vor vier Jahren um die Variante „Quitte“ erweitert.

Blöderweise sind für den urbanen Experimentierfreund an der kulinarischen Front die Bezugsquellen dennoch spärlich. Anders als die Blätter der Kaffernlimette oder Zitronengras, die selbst an den Gemüsetheken der Discounter schon gesichtet wurden, sind die leuchtendgelben und überaus bißfesten Früchte aus Großmutters Gärtchen kaum zu bekommen. Und selbst auf dem Lande haben nur wenige Quittenbäume mit ihrem undisziplinierten und mittelhohen Wuchs öffentliche und private Flurbereinigungen überstanden. Dort wurden sie in den vergangenen Dekaden gegen Koniferen oder bestenfalls gegen Gartengehölze ausgetauscht, deren Ernte vor dem Verzehr nicht soviel Muße in Anspruch nimmt wie die Quitte.

Diese Zeit nahmen sich die Altvorderen noch. Bereits bei den alten Griechen und Römern wurde die Quitte zur Kulturpflanze. Obwohl sie wohl schon damals als rohe Frucht die Geschmacksherausforderung mit Apfel, Birne oder Dattel kaum aufnehmen konnte, trumpfte der Gelbling mit anderen Qualitäten auf. So schrieb man der auch als „Speise der Braut“ bezeichneten Quitte aphrodisierende Wirkungen zu. In der jüdischen Mythologie soll Evas verbotene Paradiesfrucht gar kein Apfel, sondern eine Quitte gewesen sein. Mit diesem Rückenwind konnte sich das wohlriechende Obst über die Jahrhunderte als Lebensmittel halten und geographisch von Italien sogar die Alpen überwinden und sich dort nicht zuletzt wegen seines hohen Vitamingehaltes als „Zitrone des Nordens“ etablieren. Bis in unseren Sprachschatz setzte die Frucht ihren Siegeszug fort, nachdem die Portugiesen im 16. Jahrhundert mit ihrem aus Übersee importierten Zuckerrohr ein Quittenmus, den „marmelo“, bereiteten. Diese eingekochte Speise wurde bald bei uns als Synonym für alle auf diese Art haltbar gemachten „Marmeladen“ ausgedehnt.

Tatsächlich konnte die Quitte in den meisten Fällen über ihre Verwendung als Kompott oder Marmeladenobst bis ins 20. Jahrhundert den Speiseplan nicht folgenreich beeinflussen. Daß nur etwas Phantasie notwendig ist, um der gelben von Oktober bis November geernteten Frucht auch im herzhaften Segment ihren Platz zuzuordnen, beweisen Claudia Diewald und Ingeborg Scholz mit dem „Quitten-Lamm-Topf“ oder dem „Fasan mit Quittenfüllung“ anschaulich.

Daß alles, was eßbar irgendwie auch trinkbar ist, beweist die Quitte par excellence. Und hier können auch Städter wieder Hoffnung schöpfen. Denn sowohl als gebrannter Quittengeist wie auch als Quittenlikör ist die aus Ost­asien stammende Zierquitte – immerhin geschmacklich den botanisch entfernt verwandten Quitten doch recht nahe – ebenfalls einsetzbar. Da diese „industriefeste“ Heckenpflanze einen guten Ruf bei den deutschen Grünflächenämtern hat, gibt es sie häufig in Parks und öffentlichen Anlagen, wo die gelb-orangen, mandarinengroßen Früchte noch bis in den Dezember hinein ihrer Ernte harren.

Claudia Diewald, Ingeborg Scholz: Quitten. Geschichte – Anbau – Köstlichkeiten. Verlag Neumann-Neudamm, Melsungen 2012, gebunden, 95 Seiten, Abbildungen, 14,95 Euro

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