© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  48/13 / 22. November 2013

Politik der Stärke oder Frieden durch Nachgeben?
Vor 30 Jahren setzte der Bundestag den Nato-Doppelbeschluß um / Proteste in West und Ost gegen die Nachrüstung
Mario Kandil

Am 22. November 1983 votierte der Deutsche Bundestag in Bonn für die Stationierung von US-amerikanischen Marschflugkörpern (Cruise Missiles) und Pershing-II-Raketen auf deutschem Boden. Hiermit hatten sich in der alten Bundesrepublik die Befürworter einer Politik der Stärke gegen die Friedensbewegung durchgesetzt, doch drohte dieser Streit das Land zu spalten.

Seit die UdSSR 1976 begonnen hatte, ihre auf Westeuropa gerichteten Raketen älterer Bauart durch auf mobilen Startrampen montierte SS-20 zu ersetzen, stieg unter den europäischen Mitgliedern der Nato das Gefühl der Bedrohung. In den fünfziger Jahren hatte Helmut Schmidt, damals Wehrexperte der SPD, schon gewarnt, im Falle eines Krieges könnten die Kommandozentralen und die Atombasen in Westeu-ropa „präventiv“ zerstört werden. Dafür schienen die SS-20 geeignet.

Als Bundeskanzler (1974–1982) trug Schmidt maßgeblich zum Nato-Doppelbeschluß vom 12. Dezember 1979 bei. Der verdankte seinen Namen der Tatsache, daß er aus zwei Teilen bestand. Im ersten Teil wurden dem Warschauer Pakt Verhandlungen über eine gegenseitige Begrenzung US-amerikanischer und sowjetischer atomarer Mittelstreckenraketen angeboten, wobei die französischen Atomraketen ganz und die britischen partiell ausgespart waren. Teil zwei des Beschlusses kündigte die Aufstellung neuer atomwaffenfähiger US-Marschflugkörper (Tomahawk) und Raketen (Pershing II) in Westeuropa an. Diese zwei Ansätze sah die Nato als „komplementär“ an.

Mit dem sowjetischen Einmarsch in Afghanistan Ende Dezember 1979 zeichnete sich ein Scheitern der Entspannungspolitik ab, und die Ost-West-Beziehungen im Kalten Krieg waren erneut auf einem Tiefpunkt angelangt. Dies wirkte sich auf die Abrüstungsverhandlungen, die am 30. November 1981 in Genf begonnen hatten, negativ aus. Sie wurden um die Jahreswende 1982/83 vor allem auch deshalb ergebnislos abgebrochen, weil die Nato den Einschluß der französischen wie der britischen Raketen ablehnte. So setzten beide Seiten die Modernisierung ihrer Waffensysteme fort, und ab 1983 kam es zur Stationierung der Mittelstreckenraketen.

In der Bundesrepublik, die im Fall eines nuklearen Konflikts zwischen den Supermächten Schlachtfeld gewesen wäre und unvorstellbare Verluste an Menschen erlitten hätte, schlug die Auseinandersetzung um die Stationierung von Cruise Missiles und Pershing II hohe Wogen. Zwar war Helmut Schmidt, die treibende Kraft der Nato-Nachrüstung, am 1. Oktober 1982 durch ein konstruktives Mißtrauensvotum im Bundestag vom CDU-Vorsitzenden Helmut Kohl als Bundeskanzler ersetzt und eine Regierung aus CDU/CSU und FDP gewählt worden. Doch diese setzte Schmidts Nachrüstungskurs fort und konnte konsequenter als er verfahren, da es unter den Abgeordneten der neuen Koalition keine Ablehnung der Nachrüstung gab wie bei einem Großteil der SPD-Abgeordneten.

Viele von diesen machten jetzt ganz offen gemeinsame Sache mit den Grünen, die seit der Bundestagswahl vom 6. März 1983 im Bonner Parlament saßen, und der Friedensbewegung. Letztere war seit ihrer ersten Großdemonstration gegen die Nato-Nachrüstung (10. Oktober 1981 im Bonner Hofgarten) stark auf die Koordination ihrer Aktionen ausgerichtet. So war die zweite Hälfte des Jahres 1983 durch sich zuspitzende Aktionen der Friedensbewegung (wie vor der US-Basis im schwäbischen Mutlangen) geprägt, wobei man bereits zu Ostern vielerorts mit Blockaden die bevorzugte Aktionsform gefunden hatte. Schätzungen der Friedensbewegung besagen, daß 1983 etwa 40.000 Demonstranten an Aktionen „zivilen Ungehorsams“ teilgenommen hätten. Der nahm so militante Ausmaße an, daß am 21. November 1983 der Bundestag, der tags darauf über die Stationierung abstimmen sollte, „belagert“ wurde. So wollte die „Straße“ das Parlament unter Druck setzen und kündigte gar einen „heißen Herbst“ an.

Doch die Bundestagsmehrheit aus Union und FDP ließ sich davon nicht beeindrucken. Am 22. November 1983 setzte sie sich mit 286 Ja-Stimmen gegen 226 Nein-Voten durch und beschloß die Stationierung von 464 Cruise Missiles und 108 Pershing-II-Raketen.

Es folgte eine Verfassungsbeschwerde der Grünen gegen Lagerung und Einsatz von Atomraketen in der Bundesrepublik, die aber vom Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe zurückgewiesen wurde. Der damalige SPD-Vorsitzende Willy Brandt hatte schon im April 1983 die Friedensbewegung offen einen „Bundesgenossen“ der Sozialisten „auf dem Weg zum gleichen Ziel“ genannt. Dem Vorwurf, daß die SPD nach Helmut Schmidt dabei sei, das westliche Lager zu verlassen, entgegnete Brandt: „Ich kann doch ein glühender Anhänger des westlichen Bündnisses sein und trotzdem der Meinung sein, daß dieses Wettrüsten uns in den Wahnsinn treibt.“

Während in der Bundesrepublik in der Folgezeit die US-Mittelstreckenraketen stationiert wurden und bis Ende 1983 neun Pershing II einsatzbereit waren, brach die UdSSR die Verhandlungen über die Abrüstung aller Mittelstreckenraketen (INF) ab. Sie kündigte an, „operativ-taktische“ Raketen in ihren „Bruderstaaten“ DDR und ČSSR stationieren zu wollen. Nur wenige Jahre später aber kam es unter drastisch veränderten Umständen am 8. Dezember 1987 zur Unterzeichnung des INF-Vertrags in Washington durch Gorbatschow und Reagan. Der Kalte Krieg war vorbei.

Foto: Kundgebung gegen Nato-Nachrüstung in Ost-Berlin 1984; Mittelstreckenrakete Pershing II; Blockaden der bundesdeutschen Friedensbewegung vor der US-Basis in Mutlangen 1983, vier Jahre später beenden der sowjetische Generalsekretär Michail Gorbatschow und US-Präsident Ronald Reagan den Rüstungswettlauf: Die Friedensbewegung schoß sich nur auf die USA ein

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