© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  48/13 / 22. November 2013

Das Grauen vorwegnehmen
Österreichisch-preußischer Spannungsbogen: Zur Ausstellung „Wien – Berlin“
Fabian Schmidt-Ahmad

Die Polarität des österreichisch-preußischen Gegensatzes, sie fand sich auch in den jeweiligen Metropolen wieder. Dort Wien, welches den einzelnen mit einem barocken Stadtbild umfing, dem Gemüt von Habsburgs überkommener Pracht kündend. Hier Berlin, der aufstrebende Industriemoloch, dessen Rationalismus die Reste der Hohenzollernmonarchie rasch verzehrte. Bürgerliches Bewußtsein oder Faszination für die Arbeiterschaft, die Entgegensetzungen ließen sich beliebig fortsetzen.

Von besonderen Reiz hat es daher, wenn sich erstmals eine Ausstellung den künstlerischen Folgen dieses Spannungsbogens stellt. Ausgehend von den beiden führenden Organen der Selbstreflexion, der Wiener und der Berliner Secession, durchläuft der Besucher die Zeit von 1900 bis in die dreißiger Jahre: Impressionismus, Jugendstil, Expressionismus, Neue Sachlichkeit und futuristische Strömungen, wobei der Schwerpunkt bei letzteren liegt.

Gustav Klimts Porträtstudie der Johanna Staude zeigt Wiens Meisterschaft im Jugendstil. Obwohl damals als Revolution wahrgenommen, wird er hier im unmittelbaren Vergleich zum Ausdruck kultivierten Bürgertums. Schlußendlich war der Jugendstil auch eine konservative Bewegung, welche gegen die Entfremdung und Entwertung der Arbeit ankämpfte. Der schöpferisch tätige Mensch, er ist auch in der mit ausgestellten Originalbluse der Staude zu erkennen: kein Massenprodukt, sondern gediegene Handwerkskunst.

Anders dagegen der Blick Ernst Ludwig Kirchners, der weniger das Innere psychologisiert, sondern sich den einzelnen eher soziologisch erschließt. Mit Berlin verband Kirchner eine Haßliebe. Das Leben des Großstädters, eine ständige, rastlose Bewegung, die nur hier in einer Momentaufnahme eingefroren wurde. Mondäne Eleganz, hinter deren Fassade Kirchner aber emotionale Leere erahnen läßt. Man kann vermuten, die dargestellten Frauen und Männer sind Prostituierte und potentielle Freier.

Erschütternd die künstlerische Verarbeitung der Fronterlebnisse im Ersten Weltkrieg. Bereits vor Kriegsbeginn verdichtet sich das künstlerische Schauen zu apokalyptischen Visionen, die das reale Grauen vorwegnehmen. Im Front-alltag erlebt der einzelne eine Reduktion seiner Individualität, durch die er die Frage nach seinem Menschsein neu stellen mußte. Überragend sind hier die Radierungen von Otto Dix. Aber auch die Gesellschaft insgesamt sucht nach neuen Formen des sozialen Zusammenhalts, wie sie in den Typisierungen Käthe Kollwitz’ gefordert werden.

Die Kulturkatastrophe des Weltkriegs läßt eine tiefe Verunsicherung erkennen. Das Bürgertum als gesellschaftstragende und kunstproduzierende Kraft stellt sich zunehmend selbst in Frage, geht allmählich zum Angriff mit dem Ziel der eigenen Vernichtung über. Bürgerliche Moralvorstellungen werden offen hinterfragt, fasziniert rückt die Kunst Spielarten des Trieblebens ins Zentrum und verspottet das Normale, in Sprache der Ausstellungsgestalter die „heterosexuelle Normativität“.

Wer die Urheber dieser und anderer Begriffsalbernheiten sucht, wird nebenan fündig. „DADA ist GROSS“, schreit es einem von dem großformatigen Plakat entgegen. „Nieder die Kunst, Nieder die bürgerliche Geistigkeit“. Die Alternative wirkt allerdings nicht vertrauenserweckend. „Im sozialistischen Staat UdSSR wird nicht produziert für den Profit des Kapitalisten sondern für den Bedarf des Proletariers“, belehrt uns Friedl Dicker. Die Collage „Warenüberfluß“ entstand 1932/33, da zählte man die Opfer der Sowjets längst nach Millionen.

Wie ein doppeltes Sinnbild erscheint vor diesem Hintergrund das „Selbstbildnis mit Rasierschaum“ von Rudolf Wacker. Eine alltägliche Szene, die aber in dem expressionistischen Werk zu einer Darstellung des traurigen Harlekins erweitert wird. Es ist, als blickten die erschöpften Augen bereits in die Zukunft, wo dieser Kulturblüte der Niedergang, die Primitivierung folgen werden. Die Verflachung, die Vertierung des Menschen in der Propagandakunst der organisierten Masse.

Wer hier als Künstler nicht mitmachen will, geht in die innere Immigration. Der Expressionismus wird zur Neuen Sachlichkeit, der Künstler versteckt sich hinter den Dingen. Unverhofft findet er so wieder zu der vielleicht bürgerlichsten aller Kunstformen – dem Stilleben – in metaphysischer Überhöhung.

Die Ausstellung „Wien – Berlin. Die Kunst zweier Metropolen von Schiele bis Grosz“ ist bis zum 27. Januar 2014 in der Berlinischen Galerie, Alte Jakobstraße 124-128, täglich außer dienstags von 10 bis 18 Uhr zu sehen. Telefon: 030 / 7 89 02-600

Der Katalog mit 392 Seiten und 283 meist farbigen Abbildungen kostet 39,80 Euro.

www.berlinischegalerie.de

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