© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  47/13 / 15. November 2013

Der Flaneur
Reiz des Fremden
Paul Leonhard

Ein gleißender Lichtstrahl dringt ins Gewölbe. Der Stadtpoet kommt staunend aus seinem Kabuff. Er folgt dem Strahl, öffnet die Fenster weit und schnuppert in den Mittag. So lau mitten im Herbst.

Er beugt sich aus dem Fenster. Stellt ein Tischchen und zwei Stühle auf den Gehweg. Dann verschwindet er wieder, um in der Küche Kaffee zu kochen. Als er mit einer dampfenden Tasse zurückkommt, sitzt bereits eine bezaubernde Latina da, dreht sich eine Zigarette und begrüßt ihn mit einem „Hola“.

Das noch unausgeschlafene Gesicht des Dichters verwandelt sich in ein hocherfreutes. „Hallo, auch ein Käffchen“, lächelt er. Die junge Frau nickt begeistert. „Das wäre toll.“ Erneuter Abgang des Poeten.

Sei es der Duft des Kaffees oder der ungewohnte Anblick der Argentinierin, binnen fünf, zehn Minuten sammelt sich die in der Kleinstadt gestrandete Szene vor dem Haus des Dichters: der Industriefotograf aus dem Sauerland, die kleine blonde Kulturmanagerin aus dem Elsaß samt Hündchen, der meist bekiffte Lebenskünstler aus Stuttgart, der Zimmermann aus dem Erzgebirge. Der Stadtpoet kommt nicht dazu, seinen Charme an die Frau zu bringen. Er ist damit beschäftigt, Stühle herauszustellen und Kaffee zu kochen. Der Fotograf hat eine allen bekannte Kanadierin im Schlepptau. Da diese kein Deutsch spricht, unterhält man sich auf englisch. Nur die Latina schweigt, blickt aber interessiert in die Runde.

Kein Zweifel, die Männer balzen. Nicht wegen der Kanadierin, sondern wegen ihr. Sie zieht amüsiert an ihrer Zigarette. Abgehoben werden die letzten kulturellen Ereignisse durchgekaut: Die Ausstellung dieses Künstlers ...? Ach, der ist verstorben, ich las es im Feuilleton. Als die Kanadierin geht, diskutieren die anderen weiter auf englisch.

Eine Regenwolke verfinstert die Sonne, die Latina steht auf. Aus der Künstlergruppe fragt einer, ob sie schon gehen wolle? Sie zuckt die Schultern und winkt dem Poeten zu: „Danke für den Kaffee, schade, daß ihr hier nur englisch sprecht. Ich verstehe nur Spanisch und ein bißchen Deutsch.“

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