© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  47/13 / 15. November 2013

Probleme wie im „Globalen Süden“
Großbritannien: Dramatische Vertiefung der Kluft zwischen Arm und Reich
Wolfgang Müller

Die „Liberalisierungspolitik“ Margaret Thatchers, der jüngst verstorbenen britischen Langzeitpremierministerin (1979–1990), offenbart ihre dramatischen „Polarisierungstendenzen“ erst heute. Die von Thatcher initiierten Prozesse hätten selbst im traditionell durch scharfe gesellschaftliche Klassenunterschiede geprägten Großbritannien zu einer historisch beispiellosen Fragmentierung der Lebensverhältnisse geführt, wie der in Oxford tätige Geograph Benjamin D. Hennig, ein Spezialist der „sozialräumlichen Kartierung“, belegt (Geographische Rundschau, 10/2013).

Ein wachsender Teil der Bevölkerung werde von gesamtgesellschaftlicher Teilhabe ausgeschlossen, und die Unterschiede zwischen Arm und Reich bildeten eine „immer stärkere Kluft“, was eine soziale Mobilität zwischen Gesellschaftsgruppen mittlerweile „nahezu unmöglich“ mache. Mit der Expansion des Finanzsektors habe sich vor allem London zur „herausragenden Wohlstandsinsel“ entwickelt, während der Rest des Landes zur „Peripherie“ herabsinke. Außer in London fielen nur Manchester und Aberdeen mit einer dichten Konzentration von Multimillionären auf. Doch auch in diesen relativ prosperierenden Zonen ließen sich enorme sozioökonomische Disparitäten registrieren.

In London habe diese Polarisierung Dimensionen erreicht, die überhaupt „einzigartig“ für eine Stadt im OECD-Raum seien. Sie erinnere an Probleme, die sonst nur aus dem „Globalen Süden“ bekannt seien. Hennigs Kartensequenzen, die die innerurbanen Disparitäten mit ihren wenigen Inseln des Reichtums und den sich ausdehnenden Armutsvierteln abbilden, spiegeln nicht nur den Zustand des gesamten Landes wider, sie nähren auch kaum Hoffnung, die politische Klasse werde diese vorrevolutionär anmutenden Zustände in den Griff bekommen.

Für Hennig waren die Unruhen von 2011, die ihren Schwerpunkt vielfach in „Grenzgebieten“ zwischen reichen und armen Nachbarschaften hatten, ein unübersehbares Menetekel. Zumal die jüngsten Zahlen für London einen Anteil von 44, 9 Prozent an „Haushalten in Armut“ ausweisen, während nur 6,5 Prozent als exclusive wealthy gelten und die vom Zentrum ins Umland verdrängte Mitte wie auch sonst im EU-Raum zu bröckeln beginnt. Durch den hohen Anteil „Jugendlicher und junger Erwachsener“, auf deren ethnische Herkunft Hennig lieber nicht eingeht, wurde die Lage in der „gespaltenen Weltstadt“ erst recht zu „einer der zentralen Herausforderungen für die Zukunft Londons und Großbritanniens“.

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